Große Liebe Desiree
ihr entgegen. Er trug einen schweren Eimer, der mit einem blutigen Tuch abgedeckt war, und Désirée preßte sich an die Wand, um ihn vorbeizulassen.
Sie fühlte sich schwach, seit dem letzten Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen oder getrunken, und ihr war schwindelig vor Hunger und vor Angst. Sie schloß kurz die Augen und zwang sich, nicht ohnmächtig zu werden. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was wohl in dem Eimer gewesen war oder was sie erblicken würde, wenn sie um die letzte Ecke bog. Aber Jack war da drinnen, und um seinetwillen mußte sie gehen. Sie atmete tief durch, senkte den Kopf und ging weiter.
Sie sah die helle Lampe, die über dem blutverschmierten Holztisch hin und her pendelte. Der Arzt beugte sich gerade über einen Mann, der von seinen Helfern festgehalten wurde. Jeder seiner Muskeln war angespannt, als er sich bemühte, nicht zu schreien. Sie sah die dünne Klinge des Messers, das der Arzt in der Hand hielt, im Licht funkeln, sah den Schock des Schmerzes auf dem Gesicht des Verletzten. Und dann plötzlich sah sie statt dessen den groben blauen Wollstoff der Jacke eines Offiziers, der sie von dem Arzt wegzog. Sie hörte den Schrei des Verwundeten und wünschte, sie hätte ihn nicht gehört, während sie versuchte, sich auf die Brust des Mannes in der dunkelblauen Jacke zu konzentrieren, der sie aufrecht hielt und wegführte, zurück auf den Gang. Er war ebenfalls verwundet, dieser Offizier, denn unter seiner Jacke trug er weder ein Hemd noch eine Weste, nur einen breiten weißen Verband, der um seine Schulter und seine nackte Brust gewickelt war.
Sie machte sich von ihm los, beschämt darüber, daß sie so schwach gewesen war, und blickte zurück.
»Bitte, wissen Sie, wo Kapitän Herendon ist? Ich muß ihn finden.«
»Was ist so wichtig, Désirée, daß du hierherkommst, um mich zu suchen?«
Sie schnappte nach Luft und sah zum erstenmal hoch und in Jacks Gesicht. »O Jack, ich hatte solche Angst um dich, ich würde für dich überall hingehen, und jetzt bist du da, Jack, Liebster, du bist da! Du bist da!«
Sie hatte so sehr gefürchtet, ihn nie wieder zu sehen. Sein Haar war offen und dunkel vom Schießpulver, Anspannung und Erschöpfung hatten tiefe Linien in sein Gesicht gegraben, aber er lebte, wie durch ein Wunder lebte er!
Einer Gefühlsregung folgend, legte sie die Arme um seine Taille, um ihn an sich zu drücken, doch da spürte sie, wie er sich verkrampfte und den Atem anhielt, und schnell ließ sie ihn los. Lieber Himmel, sie hatte ihm nicht weh tun wollen.
»O Jack, es tut mir leid.« Vorsichtig berührte sie die Bandage. »Was ist passiert?«
»Dieser verdammte Franzose war besser als ich, das ist passiert.« Er führte sie den Gang entlang und nickte dem Arztgehilfen kurz zu, der ihnen mit dem nun leeren Eimer entgegenkam.
»Nein, Jack, ich meine mit dir. Du bist verletzt.«
»Ein Splitter hat mich am Rücken erwischt, das ist alles. Es ist nicht nötig, daß du dich aufregst.«
Je länger sie ihn im schwankenden Licht der Laterne betrachtete, desto besorgter wurde sie. Seine Augen blickten eigenartig kalt, völlig ausdruckslos, selbst ihre blaue Farbe erschien jetzt grau.
»Spiel mir nicht den Tapferen vor, Jack«, sagte Désirée sanft. »Die Wunde ist so schlimm, daß du hierherkommen mußtest, damit der Arzt sie versorgt.«
»Ich komme nach einem Gefecht immer in die Krankenstation. Das ist das mindeste, was ich für die Männer tun kann, die so viel dafür gaben, meinen Befehlen zu folgen. Meinen Befehlen!« Er lachte kalt und spöttisch auf.
Sie nahm seine Hand und versuchte, ihre Stimme so ruhig
wie möglich klingen zu lassen. »Komm mit mir, Jack. Du kannst für diese armen Männer hier heute nichts mehr tun.«
»Ach ja, ich habe schon genug getan, nicht wahr? Ich weiß nicht, warum diese Bastarde auf mich gehört haben.«
»Weil sie dir vertrauen, Jack. Sie wissen, daß du das Richtige tust, weil du das schon immer getan hast.« Sie mußte ihn von hier wegbringen, von dem Stöhnen der Verwundeten und von dem Geruch nach Blut in die Abgeschiedenheit seiner Kajüte. »Aber wenn du dich jetzt nicht ausruhst, bist du niemandem eine Hilfe.«
»Vielleicht habe ich noch eine Chance gegen diese französischen Bastarde, wenn wir ein ordentliches Steuerrad gebaut haben.« Er schloß die Augen und fuhr sich mit den Händen über die Stirn. »Gott helfe mir, meine Sinne sind völlig verwirrt.«
Sie schob ihre Hand unter seinen Arm und versuchte, Jack
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