Große Tiere: Roman (German Edition)
geheimen unterirdischen Straßen waren auch die Märchenfiguren für die Kinder unterwegs und tauchten an bestimmten, strategisch verteilten Punkten des Wunderlands plötzlich auf und animierten Touristen, die Fotoapparate zu zücken. Kein Kunde (»Gäste« lautete die offiziell vorgeschriebene Bezeichnung) durfte je die Katakomben betreten, damit er nicht den Blick auf etwas erhaschte, das dem gepflegten Image des Wunderlands abträglich sein könnte – zum Beispiel auf einen Hund, der im Abfall auf der Suche nach etwas Freßbarem herumwühlte. Oder auf jemanden von Onkel Elys Elfenschar, der gerade einen Joint rauchte.
Was Joe Winder sah, als er das Ende der Treppe erreichte.
»Ich suche Robbie Raccoon«, sagte er zu dem Kobold, der überhaupt nicht fröhlich oder zwergenhaft wirkte.
Der Kobold stieß eine Wolke blauen Qualms aus und erkundigte sich, welchen Robbie Raccoon er denn suche, da es insgesamt drei gebe.
»Den, der heute nachmittag Dienst hatte«, sagte Winder. »Der mit den Rattenräubern gekämpft hat.«
Der große Kobold gab mit dem glühenden Ende seines Joints die Richtung an. »Okay, da ist ein Umkleideraum auf der westlichen Seite. Folgen Sie einfach den orangefarbenen Pfeilen.« Er nahm wieder einen Zug. »Ich würde Sie ja auch mal ziehen lassen, aber ich habe irgendwas auf der Brust, ein Virus wahrscheinlich.«
»Ist schon gut«, sagte Joe Winder. »Ist nicht so schlimm.«
Der Umkleideraum und die Spinde befanden sich am Ende eines feuchten Betontunnels, der nach muffiger Wäsche und Ammoniak roch. Robbie Raccoon saß rittlings auf der Bank und versuchte, den Reißverschluß zu öffnen und seinen Kopf abzunehmen. Winder stellte sich vor und erklärte, er käme von der Presseabteilung.
»Ich schreibe eine Pressemitteilung über das, was heute im Laufe des Tages vorgefallen ist«, sagte er. »Ich möchte nur ein paar kurze Fragen stellen.«
»Schießen Sie los«, sagte Robbie Raccoon. Die Worte drangen gedämpft aus einer kleinen Öffnung im Hals des Kostüms.
Winder sagte: »Ich kann Sie kaum verstehen.«
Mit einem heftigen Knurren nahm Robbie Raccoon den Kopf ab, der so groß wie ein Strandball war. Joe Winder war verblüfft, was darunter zum Vorschein kam: lange, glänzende blonde Haare, grüne Augen und Mascara. Robbie Raccoon war eine Frau.
Sie sagte: »Wenn Sie jetzt einen Witz machen wollen, dann bitte schnell.«
»Nein, wollte ich gar nicht.«
»Glauben Sie ja nicht, daß ich dies als Lebensstellung betrachte.«
»Natürlich nicht«, sagte Joe Winder.
Die Frau erzählte, ihr Name sei Carrie Lanier. »Und ich habe meine Gewerkschaftskarte«, sagte sie immer noch im Verteidigungston. »Das ist der einzige Grund, weshalb ich diesen dämlichen Job angenommen habe. Ich will Schauspielerin werden.«
Gedankenlos sagte Winder: »Irgendwo muß man ja anfangen.«
»Verdammt richtig.«
Er wartete ab, daß Carrie Lanier auch noch den Rest des Kostüms ablegte, doch sie tat es nicht. Er holte sein Notizbuch hervor und fragte sie, was nun genau am Pavillon für Seltene Tiere passiert war.
Carrie zuckte übertrieben die Achseln, als spielte sie immer noch ihre Waschbärrolle. »Es waren zwei Männer, weißer Abschaum. Einer hatte einen Vorschlaghammer, und die beiden gingen ziemlich schnell. Ich hinterher, fragen Sie mich nicht warum – ich hatte nur so eine Ahnung. Und plötzlich zerschlägt der mit dem Hammer das Glas von einem der Schaukästen.«
»Und Sie versuchten dann, ihn aufzuhalten?«
»Ja, ich hab den Burschen angesprungen. Bin auf seinen Rücken geklettert. Er dreht sich um und hat mir ein ganz schönes Ding verpaßt. Gott sei Dank hatte ich das da.« Carrie klopfte auf die Stirn des Waschbärkopfes, der mit dem Gesicht nach oben auf der Bank lag. Ihre Faust erzeugte einen hellen, hohlen Laut. »Hühnerdraht, Gips und Kevlar«, erläuterte sie. »Es soll sogar kugelsicher sein.«
Joe Winder schrieb das auf, obgleich Charles Chelsea niemals zulassen würde, daß er das in seine Pressemeldung mit einbaute. Im Wunderland der Abenteuer wurde jede Äußerung der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit von allen wirklich interessanten Details gereinigt. Winder fiel es schwer, von seiner Gewohnheit abzulassen, sich gründliche Notizen zu machen.
»Kann ich sagen, daß Sie eine leichte Kopfverletzung davongetragen haben?« fragte er mit gezücktem Schreiber.
»Nein«, sagte Carrie Lanier. »Sobald auf den Röntgenaufnahmen nichts zu erkennen war, haben sie mich sofort
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