Große und kleine Welt (German Edition)
unbestimmteste und veraenderlichste von allen, aus denen ein Tag besteht, beginnt in dem Augenblick, wo es noch nicht Nacht und nicht mehr Tag ist. Die Abenddaemmerung wirft ihre matten Faerbungen und wunderlichen Beleuchtungen auf alle Gegenstaende, und suesse Traeumereien entstehen dann, waehrend Licht und Dunkelheit miteinander kaempfen. Das Schweigen, das fast stets waehrend dieses an Inspirationen reichen Augenblickes herrscht, macht ihn besonders den Dichtern, Malern und Bildhauern teuer. Sie sammeln sich, treten ein wenig von ihren Werken zurueck, und da sie nicht mehr daran arbeiten koennen, so beurteilen sie sie und berauschen sich mit Wonne an ihren Schoepfungen, deren ganze Schoenheit sich vor dem inneren Auge ihres Genius entfaltet.
Derjenige, der noch nie waehrend dieses Augenblicks in poetische Traeumereien versunken neben einem Freunde sass, wird nur schwer die unnennbaren Wohltaten desselben begreifen. Infolge des Halbdunkels verschwindet der materielle Trug, den die Kunst anwendet, um an die Wirklichkeit des Lebens glauben zu machen. Der Schatten wird dann Schatten, Licht ist Licht, das Fleisch wird lebendig, die Augen leuchten, Blut fliesst durch die Adern und die Gewaender der gemalten Figuren scheinen zu rauschen. Die Einbildungskraft kommt auf wundersame Weise zu Hilfe, um an die Natuerlichkeit der Einzelheiten glauben zu machen; man sieht nur noch die Schoenheit des Werks, und wenn es sich um ein Gemaelde handelt, so scheint es uns, als ob die dargestellten Personen redeten und sich bewegten.
Despotisch herrscht in dieser Stunde die Illusion; sie erhebt sich mit der Nacht. Und ist sie fuer den Verstand nicht eine Art von Nacht, an die wir so gern glauben? Die Illusion hat dann Schwingen, sie fuehrt den Geist in die Welt der Phantasien, in eine Welt, die fruchtbar an wolluestigen Launen ist, und in welcher der Kuenstler ganz und gar die wirkliche Welt vergisst, die Vergangenheit, die Zukunft, sogar sein Elend.
In dieser magischen Stunde war es, als ein junger Maler, ein talentvoller Mann, der in der Kunst nur die Kunst selbst erblickte, die Doppelleiter bestiegen hatte, deren er sich bediente, um ein grosses und hohes Gemaelde zu entwerfen, das bereits zu einem grossen Teile vollendet war. Er beurteilte sich jetzt selbst, bewunderte sich aufrichtig, ueberliess sich dem Strome seiner Gedanken und versank in eine jener Ueberlegungen, die das Herz entzuecken und erheben, die ihm schmeicheln und es troesten. Seine Traeumerei dauerte ohne Zweifel lange Zeit; die Nacht erschien, und sei es nun, dass er von seiner Leiter herabsteigen wollte, sei es, dass er eine unvorsichtige Bewegung machte, indem er sich auf ebener Erde glaubte, denn das Ereignis erlaubte ihm nicht, sich genau an die Ursachen seines Ungluecks zu erinnern…. Er fiel.
Sein Kopf schlug gegen einen Sessel, so dass er das Bewusstsein verlor und eine Zeit lang regungslos liegen blieb. Wie lange er in diesem bewusstlosen Zustande verblieb, konnte er selbst nicht angeben. Eine sanfte Stimme erweckte ihn aus der Betaeubung, in die er versunken war. Als er die Augen aufschlug, drang ein so lebhaftes Licht durch die Lider, dass er sie sogleich wieder schliessen musste. Nun vernahm er durch den Schleier hindurch, der seine Sinne gewissermassen umhuellte, das Gespraech zweier weiblichen Personen, und fuehlte jugendliche schuechterne Haende sein Haupt betasten. Als er dann sein Bewusstsein vollkommen wiedergewonnen, vermochte er beim Schein einer altmodischen Lampe das wonnigste Koepfchen eines jungen Maedchens zu unterscheiden, das er je gesehen hatte, einen von jenen Koepfen, die man oft fuer eine Laune des Pinsels halten moechte, der aber fuer ihn sein schoenes Ideal ploetzlich verwirklichte, denn jeder Kuenstler hat ein Ideal, und daher eben entspringt sein Talent.
Das Antlitz der Unbekannten gehoerte gewissermassen zu dem feinen und zarten Typus der Schule von Prudhon und besass ueberdies jene phantastische Poesie, mit der Girodet seine Gestalten bekleidet hat. Die Frische der Schlaefen, die Regelmaessigkeit der Brauen, die Reinheit der Linien, die in allen Zuegen dieser Physiognomie kraeftig ausgepraegte Jungfraeulichkeit machten gewissermassen eine vollendete Schoepfung aus dem jungen Maedchen. Es hatte einen schlanken und geschmeidigen Wuchs, hatte zarte Formen. Die einfache und saubere Kleidung deutete weder auf Reichtum noch auf Armut.
Als der junge Maler die Besinnung wiedererlangt hatte, drueckte er seine Bewunderung durch einen
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