Große und kleine Welt (German Edition)
erzaehlte ihm nun nach ihrer Weise, was sie von den beiden Unbekannten wusste.
"Ach!" sagte sie, "das ist ohne Zweifel Fraeulein Leseigneur mit ihrer Mutter gewesen! Sie wohnen hier seit vier Jahren und wir wissen immer noch nicht, was sie treiben. Nur des Morgens, bis Mittag etwa, erscheint eine alte Aufwaerterin, die halb taub ist und stumm wie eine Wand, um sie zu bedienen; abends kommen dann zwei oder drei alte Herren, die ebenfalls Orden tragen, wie Sie, mein Herr. Der eine hat eine Kutsche, Bediente und gegen fuenfzigtausend Livres Rente. Oft bleiben die alten Herren bis spaet in die Nacht. Uebrigens sind sie recht ruhige Mietleute, wie Sie, mein Herr; aber sparsam; o, ich sage Ihnen, sie leben gleichsam von Nichts!… Wenn ein Brief kommt, so bezahlen sie ihn auf der Stelle. Wunderlich ist es, mein Herr, dass die Mutter anders heisst als die Tochter…. Ach! wenn sie in die Tuilerien gehen, so ueberstrahlt das Fraeulein alle andern jungen Damen, die jungen Herren laufen ihr bis vor das Haus nach, sie aber schlaegt ihnen die Tuer vor der Nase zu. Na, der Hauseigentuemer wuerde aber auch nicht dulden…."
Der Wagen war jetzt angekommen; Hippolyt hoerte nicht weiter auf die alte Schwaetzerin, sondern fuhr sogleich nach Hause. Seine Mutter, der er seinen Ungluecksfall erzaehlte, verband nochmals die Wunde an der Stirn und erlaubte ihm am folgenden Tage nicht, in seine Werkstatt zu gehen. Sie rief einen Arzt herbei; verschiedene Vorschriften wurden von demselben gegeben und Hippolyt blieb zwei Tage zu Hause. Waehrenddessen rief ihm seine unbeschaeftigte Einbildungskraft die Einzelheiten des Auftrittes ins Gedaechtnis zurueck, der sich nach seiner Ohnmacht vor seinen Augen zugetragen hatte. Die Zuege des jungen Maedchens schwebten dabei haeufig an seinen Blicken vorueber und dann sah er das gewelkte Antlitz der Mutter, oder fuehlte noch Adelaidens sanfte Haende. Manchmal erinnerte er sich an eine Bewegung oder einen Blick des Maedchens, das er anfangs unbeachtet gelassen hatte, deren Erinnerung ihm aber jetzt eine seltene Anmut enthuellte; ein andermal erinnerte er sich an eine Stellung oder an den Klang ihrer melodischen Stimme; die Erinnerung verschoenerte die geringsten Zufaelligkeiten aus diesem Abschnitt seines Lebens. Als er am dritten Tage fruehzeitig nach seiner Werkstatt eilte, waren nicht seine begonnenen Gemaelde, sondern der Besuch, den er bei seinen Nachbarinnen abstatten musste, der wahre Grund seiner Eile. In dem Augenblicke, in dem sich eine Liebe aus ihrem Keime entwickelt, werden wir von unerklaerlichen Wonnen ergriffen. Das wissen alle, die je geliebt haben. Mancher Leser wird daher begreifen, weshalb der Maler so langsam die Stufen zum vierten Stock hinanstieg, weshalb sein Herz so schnell und heftig schlug, als er die braune Tuer der bescheidenen Wohnung erblickte, in der er Fraeulein Leseigneur wusste. Dieses Maedchen, das den Namen seiner Mutter nicht fuehrte, hatte tausend Sympathien in dem Herzen des jungen Malers erweckt. Er glaubte, eine Aehnlichkeit zwischen ihrer Lage und der seinigen zu finden, und stattete sie mit allen Leiden seins eigenen Ursprungs aus. Er arbeitet und ueberliess sich dabei wonnigen Gedanken der Liebe, machte in einer Absicht, die er sich selbst nicht besonders zu erklaeren wusste, viel Geraeusch, gleichsam als wolle er die beiden Damen dadurch zwingen, ebenso an ihn zu denken, wie er an sie dachte. Er blieb sehr lange in seiner Werkstatt, speiste dort und begab sich dann gegen sieben Uhr zu seinen Nachbarinnen.
Selten haben uns die Sittenschilderer durch ihre Erzaehlungen oder Schriften in das wahrhaft merkwuerdige Innere eines gewissen Pariser Daseins eingeweiht, in das Geheimnis jener Wohnungen naemlich, aus denen so elegante Toiletten, so strahlende Damen hervorgehen, die, reich nach aussen, zuhause allenthalben die Zeichen eines zweifelhaften Vermoegens erblicken lassen. Wenn wir hier das Gemaelde einer solchen Haeuslichkeit mit raschen Pinselstrichen entwerfen, so beschuldige man die Erzaehlung nicht etwa der Breite; denn diese Beschreibung bildet gewissermassen ein wichtiges Glied der Erzaehlung. Der Anblick der Wohnung, die die beiden Damen innehatten, erzeugte einen bedeutenden Einfluss auf Hippolyt Schinners Gefuehle und Hoffnungen. Zunaechst zwingt uns die geschichtliche Wahrheit zu dem Bekenntnis, dass der Besitzer des Hauses zu jenen Leuten gehoerte, die einen tiefen Abscheu gegen alle Ausbesserungen und Verschoenerungen hegen, zu jenen Maennern, die
Weitere Kostenlose Bücher