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Große und kleine Welt (German Edition)

Große und kleine Welt (German Edition)

Titel: Große und kleine Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Muster gesehen zu haben, wie in diesem schoenen Gewebe, allein der Schal war nun alt, hatte seine Frische verloren, war voll geschickt eingesetzter Flicken und harmonierte vollkommen mit dem uebrigen Geraet. Frau Leseigneur huellte sich kunstvoll hinein und in einer Art, die bewies, dass sie wirklich friere. Das junge Maedchen eilte darauf schnell in das "Kapernaum" und kehrte mit einer Hand voll Spaene zurueck, die sie in den Kamin warf, um die erloschenen Braende wieder anzufachen.
    Es wuerde eine schwierige Aufgabe sein, die Unterhaltung wiederzugeben, die zwischen den drei Personen stattfand. Geleitet durch jenen Takt, den man fast stets durch Leiden erlangt, unter denen man von Kindheit an geseufzt hat, erlaubte sich Hippolyt nicht die geringste Bemerkung bezueglich der Lage seiner beiden Nachbarinnen, waehrend er allenthalben die Kennzeichen einer grossen und schlecht verhehlten Duerftigkeit erblickte. Auch die einfachste Frage wuerde unbescheiden gewesen sein und haette nur einem alten Freunde verziehen werden koennen. Dennoch wurde der Maler sehr von diesem verborgenen Elend geruehrt, sein edelmuetiges Herz litt darunter; aber er wusste, dass auch das freundschaftlichste Mitleid beleidigend sein kann, und fand sich daher durch den Missklang beengt, der zwischen seinen Gedanken und seinen Worten bestand. Die beiden Damen errieten gar leicht die geheime Verlegenheit, die durch einen ersten Besuch veranlasst wird, vielleicht, weil sie dieselbe mitfuehlen und die Natur ihres Geistes ihnen tausend Hilfsquellen gewaehrt, um jene Verlegenheit aufzuheben. Adelaide und ihre Mutter fragten den jungen Mann nach dem materiellen Verfahren seiner Kunst und nach seinen Studien, indem sie ihn allmaehlich zum Sprechen aufzumuntern suchten. Die Nichtigkeit ihrer von Wohlwollen beseelten Unterhaltung fuehrte ohne Zwang dahin, dass er Bemerkungen und Reflexionen machte, die die Beschaffenheit seiner Sitten und seiner Seele verrieten.
    Die alte Dame mochte einmal schoen gewesen sein, allein ein geheimer Kummer hatte ihr Antlitz vor der Zeit welken lassen, so dass ihr nur noch die hervorspringenden Zuege, die Umrisse, kurz, das Skelett einer Physiognomie uebrig geblieben war, deren Gesamtheit auf eine grosse Feinheit deutete, waehrend besonders das Spiel der Augen viel Anmut und jenen Ausdruck zeigte, der den Damen des alten franzoesischen Hofes eigentuemlich ist, und den man durch Worte nicht zu beschreiben vermag. Allein die Gesamtheit dieser feinen und hervortretenden Zuege konnte ebensogut schlechte Gesinnung verraten, weibliche List und Schlauheit, selbst einen hohen Grad der Verdorbenheit vermuten lassen, als die Zartheit einer schoenen Seele offenbaren. Der gewoehnliche Beobachter geraet vor weiblichen Gesichtern oft in Verlegenheit und weiss die Offenheit von der Verstellung, das Talent der Intrige von der Herzlichkeit nicht zu unterscheiden. Man muss die fast unmerklichen Nuancen zu erraten wissen. Es ist bald eine mehr oder weniger gekruemmte Linie, bald ein mehr oder weniger ausgehoehltes Gruebchen, eine mehr oder weniger gewoelbte oder hervorspringende Biegung, die man zu wuerdigen suchen muss; die Augen allein koennen uns das entdecken lassen, was ein jeder zu verstecken sucht, und die Wissenschaft des Beobachters liegt in der schnellen Wahrnehmungskraft seines Blickes. Es ging demnach mit dem Antlitz der alten Dame wie mit der Wohnung, die sie innehatte; es schien ebenso schwierig zu durchblikken, ob dieses Elend Laster berge oder eine hohe Rechtschaffenheit, sowie es schwierig war, zu erkennen, ob Adelaidens Mutter eine alte Kokette sei, gewoehnt, alles zu erwaegen, alles zu berechnen, alles zu verkaufen, oder ein liebendes und schwaches Weib, voll Anmut und Zartgefuehl. In jenem Alter, in dem Hippolyt Schinner stand, glaubt man aber am liebsten an das Gute, und er glaubte daher gewissermassen den angenehmen und bescheidenen Duft der Tugend einzuatmen, indem er Adelaides Stirn sah und in ihre Augen blickte, die voll Herz und Geist waren. Waehrend der Unterhaltung ergriff er die Gelegenheit, von den Portraets im allgemeinen zu sprechen, um dann zu dem schrecklichen Pastellgemaelde uebergehen zu koennen, von dem die Farben groesstenteils abgefallen waren.
    "Sie lieben diese Malerei wohl wegen der Aehnlichkeit, meine Damen, denn die Zeichnung selbst ist schauderhaft …" sagte er mit einem Blick auf Adelaide.
    "Es ist in Kalkutta gemalt, und zwar in grosser Eile!" antwortete die Mutter mit bewegter Stimme. Dann

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