Große und kleine Welt (German Edition)
betrachtete sie die formlose Skizze mit jener tiefen Versunkenheit, die die ploetzliche Erinnerung an ein Glueck verraet, das wohltuend fuer das Herz gewesen ist, wie der Tau des Morgens fuer die Blumen des Sommers. Zugleich lagen aber in dem Ausdruck, den die Zuege der alten Dame zeigten, die Spuren einer tiefen Trauer; wenigstens glaubte sich der Maler die Haltung und das Aussehen seiner Nachbarin so erklaeren zu muessen. Er setzte sich neben sie und sagte mit freundschaftlicher Stimme: "Meine Dame, noch kurze Zeit, und die Farben dieses Pastellbildes werden verschwunden sein. Das Portraet wird bald nur noch in Ihrer Erinnerung bestehen, und wo Sie geliebte Zuege erblickten, werden andere nichts mehr wahrnehmen koennen. Wollen Sie mir erlauben, dieses Bild auf die Leinwand zu uebertragen? So wird es dauerhafter sein, als auf Papier…. Gewaehren Sie mir, als ihrem Nachbar, die Gunst, Ihnen diesen Dienst zu leisten. Es gibt Stunden, waehrend deren ein Kuenstler sich gern von seinen grossen Kompositionen erholt und dagegen eine einfachere Arbeit vornimmt. Es wird eine Zerstreuung fuer mich sein, dieses Bild zu malen."
Die alte Dame wurde lebhaft bewegt durch diese Worte, und Adelaide warf dem Maler einen jener verstohlenen Blicke zu, in denen sich das ganze Herz widerzuspiegeln scheint.
Hippolyt wollte auf irgendeine Weise mit seinen beiden Nachbarinnen in Verbindung treten und das Recht erlangen, an ihrem Leben teilzunehmen. Das einzige aber, was er tun konnte, war jenes Anerbieten; es befriedigte seinen Kuenstlerstolz und hatte nichts Verletzendes fuer die beiden Damen.—Frau Leseigneur nahm das Anerbieten an.
"Es scheint mir," sagte Hippolyt, "als ob die Uniform auf einen
Marineoffizier deutete?"
"Ja," antwortete sie, "es ist die Uniform der Schiffskapitaene. Herr von Rouville, mein Mann, starb in Batavia an den Folgen einer Wunde, die er in einem Gefecht mit einem englischen Schiffe erhielt, dem er an Asiens Kuesten begegnete. Er befehligte eine Fregatte von sechzig Kanonen, waehrend die Revenge ein Schiff mit sechsundneunzig Kanonen war. Der Kampf war demnach sehr ungleich, aber Herr von Rouville verteidigte sich so mutig, dass er sich bis zum Eintritt der Nacht halten konnte, worauf er seinem Feind durch die Flucht entging. Als ich nach Frankreich zurueckkehrte, war Bonaparte nicht mehr im Besitz der Macht, und man verweigerte mir eine Pension. Als ich abermals um eine solche nachsuchte, entgegnete mir der Minister mit Haerte, dass der Baron von Rouville noch leben und ohne Zweifel Kontreadmiral sein wuerde, wenn er emigriert waere. Ich haette jene demuetigenden Schritte gar nicht getan, haette ich nicht um meiner armen Adelaide willen sie zu tun muessen geglaubt, und waere ich nicht von meinen Freunden dazu veranlasst worden. Was mich betrifft, so widerstrebte es mir stets, meine Hand auszustrecken und mich dabei auf einen Schmerz zu berufen, der einer Gattin weder Kraft noch Worte lassen kann. Ich hasse diesen Geldlohn fuer untadelhaft vergossenes Blut…."
"Meine Mutter, diese Erinnerung erschuettert Dich…." Nach dieser Bemerkung ihrer Tochter neigte die Baronin von Rouville ihr Haupt und schwieg.
"Mein Herr," sagte das junge Maedchen zu Hippolyt, "ich glaubte, die Arbeiten der Maler seien im allgemeinen wenig geraeuschvoll…. Sie scheinen aber…."
Schinner erroetete bei diesen Worten und laechelte; Adelaide endete aber ihre Bemerkung nicht und ersparte ihm eine Luege, indem sie sich bei dem Rollen einer Kutsche, die vor der Tuere anhielt, rasch erhob. Sie ging in ihre Kammer und kehrte sogleich mit zwei vergoldeten Leuchtern zurueck, deren Kerzen sie schnell anzuendete. Die Lampe stellte sie darauf in das Vorzimmer und oeffnete sofort die Tuer, ohne erst zu warten, dass die Klingel gezogen werde. Hippolyt hoerte darauf einen Kuss empfangen und erwidern, und empfand einen peinlichen Schmerz. Der junge Mann erwartete mit Ungeduld den zu erblicken, der Adelaide so vertraulich behandelte; allein die Angekommenen unterhielten sich erst leise mit dem jungen Maedchen. Das Gespraech kam ihm zu lang vor. Endlich erschien sie wieder, und ihr folgten zwei Manner, deren Anzug, Physiognomie und Aussehen eine ganze Geschichte enthielten.
Der erstere mochte etwa sechzig Jahre alt sein und trug eines jener Kleider, die unter der Regierung Ludwig XVIII. erfunden wurden, und in denen der Schneider, der die Unsterblichkeit verdiente, das schwierigste Kleidungsproblem geloest hatte. Dieser Meister verstand sich
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