Großer-Tiger und Christian
machen,
es sei Zeit, sich den Bart scheren zu lassen, ein Stoffhändler rief laut: »Zehn Cents der Fuß! nur zehn Cents! oder auch ein
bisschen mehr!« und dazwischen tönten die Glocken einer heimkehrenden Kamelkarawane.
Glück musste ganz langsam fahren. Einmal musste er sogar anhalten, weil ein Esel scheu geworden war und seinen Reiter abwerfen
wollte.
»Du da!«, schrie Glück und beugte sich zum Fenster hinaus, »kannst du nicht reiten, oder weißt du nicht, was ein Automobil
ist?«
»Ich kann reiten«, antwortete der Mann, »und ich kann ein Automobil von einem andern Wagen unterscheiden. Aber mein Esel kann
es nicht. Sei so gut und lehre ihn die Verschiedenheit.«
»Schlingel!«, rief Glück, »ich werde es ihm beibringen!«, und er tutete so laut, dass den Esel ein großes Entsetzen packte
und er mitsamt dem Reiter davongaloppierte.
Glück lachte; aber als das Stadttor in Sicht kam, war die Zollschrankeheruntergelassen, und Glück musste von neuem halten. Er schimpfte, und der Zollwächter schimpfte zurück.
»Du wagst es, einen Militärwagen anzuhalten!«, schrie Glück; »du solltest zittern!«
Der Zollwächter grinste. »Ich wage es«, sagte er, »und ich zittre nicht.«
»Ich werde dir die Knochen zerbrechen!«
»Schrei nicht so laut! Du hast was zu verzollen. Vorhin war ein Mann da mit einem Esel, der hat es mir gesagt.«
»Er lügt!«, schrie Glück; »sein Vater und seine Mutter sind Lügner, und seine Großmutter lügt auch! Weil du ihm aber mehr
glaubst als mir, werde ich dir eine Kugel in den Bauch schießen.«
Bei diesen Worten zog Glück die Pistole aus der Pistolentasche. Am Kolben glänzte ein Messingring, und an dem Ring baumelte
eine rote Quaste aus gezwirnten Seidenfäden. Das sah prächtig aus.
Als der Zollwächter die Pistole mit der roten Troddel sah, machte er flugs die Schranke auf.
»Böser Mensch!«, rief er dem davonfahrenden Glück nach, »mögen dir die Speichen von den Rädern fallen, du böser Mensch mit
bösen Vorfahren!«
Außerhalb des Stadttores standen nur wenige schlechte Lehmhütten, und bald war nirgends mehr ein Haus. Ein breites Flussbett,
in dem es viele kleine und große Steine und einen schmalen Wasserlauf gab, kam aus einem Seitental, in das Glück den Wagen
lenkte.
Christian holte die Karte Südliches-Blatt aus der Ledermappe und versuchte, sich zu orientieren.
»Jetzt sind wir da«, sagte er zu Großer-Tiger und zeigte mit dem Finger in die Gegend von Kalgan; und eine Weile später sagte
er: »Jetzt sind wir da.« Aber ganz sicher war er nicht.
»Wie heißt der nächste Ort?«, wollte Großer-Tiger wissen.
Diese Frage kam Christian unerwartet. »Ich muss durch das Vergrößerungsglas schauen«, sagte er.
Nun kam es darauf an, dass Christian, wie man in China sagt, nicht das Gesicht verlor. Auch kleine Jungen haben ein Gesicht,auf das sie achtgeben müssen, damit es nicht durch eine Großsprecherei verdunkelt wird oder ganz verloren geht.
»Der Wagen schaukelt so, ich kann schlecht lesen«, bemerkte Christian kleinlaut.
»Das kommt«, setzte ihm Großer-Tiger auseinander, »davon, weil wir über Steine und Baumwurzeln fahren.«
Christian sah von der Karte Südliches-Blatt auf, und er erblickte eine Menge dicker Baumstämme mit mächtigen Kronen.
»Schwarzpappeln«, erklärte Großer-Tiger.
Kaum hatte Großer-Tiger »Schwarzpappeln« gesagt, als Christian ein hilfreicher Gedanke kam. Es war aber auch die höchste Zeit.
Es fiel ihm nämlich ein, dass es in China nur wenig Wald gibt und in den nördlichen Provinzen so gut wie gar keinen. War es
da nicht fast sicher, dass ein solcher Haufen Schwarzpappeln, der beinahe die Bezeichnung Wald verdiente, in dem Südlichen-Blatt
eingezeichnet war? Wald, das wusste Christian, wurde mit lauter kleinen Kreisen auf einer Karte vermerkt. Wenn er diese Kreise
fand … Und Christian fand sie. Gleich im Norden von Kalgan waren sie; es gab zwar nur wenige, aber das kam daher, weil das Tal
nicht breit war. Da war auch der Weg, und hinter den Kreisen, die Wald bedeuteten, war eine Siedlung mit vier oder fünf Häusern
angegeben. Ein Name stand dabei.
»Der nächste Ort heißt: ›Heim in den Felsen‹, berichtete Christian. »Sobald die Bäume aufhören, werden wir die Häuser sehen.«
»Das, was du da hast«, sagte Großer-Tiger anerkennend, »ist ein gutes Landbild. Es ist nützlich, dass man vorher lesen kann,
wohin man nachher gelangt.«
Er sagte noch mehr
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