Großer-Tiger und Christian
Tee, bitte sehr, ein Glückstee sozusagen mit Akazienblüten.«
»Scher dich fort!«, sagte Grünmantel.
Der Wirt dienerte: »Ich lasse die Herrschaften allein. Vielleicht bemühen sich die Exzellenzen später in mein Gastzimmer,
um die Inschriften der Dichter zu lesen; ihr Sinn ist weitreichend, und ihre Urteile sind umschreibend, aber treffend. Ich
gehe jetzt, bitte sehr, ich bin schon nicht mehr da. Welche Freude, welches Glück, welches Wiedersehen!«
»Alter Hung-Hu-Tse«, brummte Grünmantel, und Christian wunderte sich wieder über das Wort. Nach der zweiten Tasse Tee stand
Grünmantel auf, stieg die Stufen hinauf, ging durch den Garten, der eben zur Bepflanzung hergerichtet wurde, und verschwand
in der Tür der Schenke.
»Jetzt sind«, sagte Glück grinsend, »zwei alte Hung-Hu-Tse beisammen.«
Christian fasste sich ein Herz. »Ich bitte um Vergebung meiner Unwissenheit«, sagte er, »Hung-Hu-Tse heißt Rotbart, aber von
den beiden Herrn hat keiner einen roten Bart.«
»Du meine Güte!«, rief Glück belustigt, »das ist kaum zu glauben. Du weißt doch sonst alles.«
Christian merkte, wie er rot wurde.
»Eben dieses weiß ich nicht.«
»Gut«, sagte Glück, »ich will es dir erklären. Diese zwei schätzbaren Herren waren nicht immer Herren. Es gibt Leute, die
behaupten, sie seien früher einmal Rotbärte gewesen. Man weiß es aber nicht genau, weil man nicht darüber spricht, denn ein
Rotbart ist einer, der in die Berge ging.«
»Aha!«, sagte Christian, »so ist das? – ein Rotbart ist ein Straßenräuber!«
»Sch! sch!«, machte Glück, »das habe ich nicht gesagt.«
»Warum nennt da Herr Grünmantel andere Leute Rotbärte, wenn er selbst einmal …«
»Sch!«, machte Glück, »es ist nicht sicher.«
»Aber es ist unhöflich, einen andern Hung-Hu-Tse zu nennen.«
»Das tut er«, sagte Glück, »damit niemand auf den trefflichen Gedanken kommt, er selbst könne einer gewesen sein.«
Christian sagte wieder »Aha!« und »So ist das?«, und dann sagte er nichts mehr; und Glück sprach auch nicht weiter davon,
sondern stand auf, um die Arbeiten zu verrichten, die er für notwendig erklärt hatte.
Großer-Tiger stieß Christian in die Seite. »Wir müssen die Möglichkeiten ausnützen«, flüsterte er; und dann gingen beide artig
zu Glück und baten um das Vergnügen, für ihn eine Kanne Wasser holen zu dürfen.
»Immer zu«, sagte Glück, »das dürft ihr.«
Großer-Tiger nahm die Kanne, und sie stiegen die Stufen empor. Sie gingen miteinander durch den Garten und traten durch die
halb offenstehende Tür in die Schenke. Ein rußgeschwärzter Raum mit einer Feuerstelle, über der an Ketten ein Kessel hing,
war das Gastzimmer, wo große Dichter, wie der Wirt behauptete, erhabene Gedanken kriegten. Niemand war da. Es roch nach verkohltem
Holz, nach Moder und nach feuchten Wänden; doch das mochte die Nähe des Wasserfalls mit sich bringen. Aus dem Nebenzimmer
hörte man gedämpft die Stimme Grünmantels. »Was verlockt dich Trottel, so zu tun, als wären wir alte Bekannte?«
»Wir sind es doch«, verteidigte sich der Wirt; »alte Freundschaft soll man nicht brechen.«
»Ich werde dir den Hals brechen!«, schrie Grünmantel. »Unvorsichtiger! Du trittst dem Tiger auf den Schwanz!«
»Vergebung, Herr Grünmantel! Ich meinte nur, bitte sehr, ich dachte nur ein klein bisschen an frühere Zeiten; aber wie gesagt,
nur ein ganz klein bisschen.«
»Fängst du schon wieder an? Es ist besser, du denkst nicht. Ist die Straße in Ordnung?«
»Sie ist in der vorzüglichsten Ebenmäßigkeit.«
»Unterstehe dich, Wasser darüberlaufen zu lassen!«
»Wie könnte ich so etwas auch nur träumen? Pst! … Bitte sehr, es muss jemand im Gastzimmer sein. Vergebung, ich muss mal eben nachsehen.«
Großer-Tiger hatte die leere Kanne unbedacht auf den Bodengestellt. Christian war mit dem Fuß dagegengestoßen, und nun erschraken beide. Rasch machten sie zwei Schritte rückwärts und
standen, als wären sie eben gekommen, im Türrahmen, als der Wirt aus dem Nebenzimmer trat.
»Oh, die beiden jungen Fürsten«, rief er lächelnd, »bemühen sich in meine kalte Hütte, um die Weisheit der Dichter zu verehren!«
»Wir möchten diese Kanne mit Wasser füllen«, sagte Großer-Tiger; »gibt es einen Brunnen hier?«
»Es gibt einen abgründigen Brunnen gleich hinter dem Haus. Darf ich die befehlenden jungen Herrn führen? – Nein, nicht hier!
Um das Haus herum, bitte
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