Großer-Tiger und Christian
forschen?«
Kao-Scheng seufzte: »Eigentlich ist es ein Staatsgeheimnis, aber da Ihr nun schon einmal das meiste wisst, will ich die Sache
vom Kopf bis zum Schwanz erklären.«
»Lügen loslassen gilt nicht«, mahnte Mondschein, »sonst ist es kein Verfahren.«
»Eines Tages«, begann Kao-Scheng, »kam ein Blitzbrief des alten Gebieters aus der Hauptstadt und befahl allen Grenzhauptleuten,
besonders aber mir, nach den jungen Herren zu forschen. Sie seien, hieß es, am sechsten Tag des vergangenen Monds in Hwai-Lai-Hsien
abgereist, und man habe sie am sechzehnten Tag in der Hauptstadt erwartet. Sie wären aber sozusagen nicht eingetroffen.«
»Hast du über diese Sache nachgedacht?«
»Ich habe zahllose Nächte mit Nachdenken verbracht, besonders aber die Tage.«
»Du hast es eben falsch angestellt«, versicherte Mondschein, »oder mindestens nicht richtig. Sage mir, wie lange braucht man
von Kalgan bis zur Hauptstadt des alten Gebieters?«
»Neunzig Tage mit Kamelen.«
»Richtig«, sagte Mondschein, »und von Hwai-Lai-Hsien dauert es noch zwei Tage länger. Wie könnte man da in zehn Tagen die
Reise machen?«
»Vielleicht«, sagte Kao-Scheng, »mit einem der neumodischen Wagen, die von selber gehen.«
»Bravo!«, rief Mondschein, »ich sehe, du bist ein Hauptmannund kein Holzkopf. Die zwei Fürstensöhne reisten mit so einem Wagen, weil sie nun einmal junge Exzellenzen sind. Aber am Edsin-Gol
hat ihnen dieser verdammte Grünmantel den Wagen gestohlen. Jetzt fährt er selbst damit, und es sollte mich nicht wundern,
wenn wir ihn an dem Ort Fallende-Wand erwischten.«
»Ha!«, schrie Kao-Scheng, dem ein Licht aufging. Er sprang auf die Beine.
»Habt ihr gesattelt, ihr Tagediebe? Seid ihr fertig, ihr fünf Mann Schlafmützen?«
»Man soll nichts überstürzen«, mahnte Mondschein, und er rief Großer-Tiger und Christian, damit sie dem Hauptmann berichteten,
wie es am Edsin-Gol zugegangen war.
»So eine Bestie!«, schrie Kao-Scheng; »ich glaubte, er sei ein Kaufmann und fahre nach Hami, und jetzt ist er ein stinkender
Wagendieb, der sich in Fallende-Wand versteckt. Aber wir werden ihn kriegen. Es ist zwar«, sagte Kao-Scheng, »eine gefährliche
Gegend.«
»Verbrecher fangen ist immer so«, beruhigte ihn Mondschein; »in einem Melonengarten kann man es nicht. Geh jetzt und sage
deinen Männern, dass wir Grünmantel fangen wollen. Sie sollen die Gewehre laden und die Rosshaarbüsche aus den Läufen nehmen.
Eine dicke Belohnung kannst du ihnen obendrein versprechen.«
Da versammelte Kao-Scheng seine fünf Soldaten und redete lange, und nachher redeten alle durcheinander, und schließlich brüllten
sie »Bravo!« oder etwas Ähnliches wegen der Belohnung. Dann ging alles sehr geschwind, und nach wenigen Minuten saßen die
Männer im Sattel.
Kao-Scheng ritt voraus. Die Sonne war aufgegangen, aber im Steinbachtal war es kalt. Mondschein wäre am liebsten nach Möng-Schui
zurückgeritten, um der Eselspur nachzujagen, aber Dampignak sagte: »Lass Kao-Scheng machen, er weiß den kürzesten Weg.«
Sie blieben ein Stück hinter dem Hauptmann und seinen fünf Soldaten zurück, und Dampignak bat Christian und Großer-Tiger zu
erzählen, wie es in dem Schacht unter der Festungsmauergewesen war und wie sie zu dem Kästchen kamen. Da berichtete Christian, was er wusste, und Großer-Tiger half ihm dabei, und
als sie mit Erzählen fertig waren, sagte Mondschein: »Am Ende hat Grünmantel auch Ma umgebracht; ich hörte ihn um Hilfe rufen.«
»Wir glauben es nicht«, erwiderte Christian, »denn Ma hatte Zeit zum Davonlaufen, solange Grünmantel mit den Beinen in dem
Loch strampelte.«
»Ich erinnere mich«, sagte Mondschein, »das war, wie auch er um Hilfe schrie, dieser Schurke.«
»Der Schreck war schuld«, sagte Großer-Tiger, »und weil Kompass-Berg ihn in die Wade biss, damit er Angst vor der Höhle kriegte.
Sonst hätte er uns gefunden.«
»Er wäre nicht mehr am Leben«, sagte Mondschein wütend.
»Pfötchen«, sagte Dampignak, »so, wie es ist, ist es besser.«
Sie hatten die Passhöhe des Steinbachtales erreicht, und die Pferde begannen zu traben. Aus den Hügeln waren Berge geworden,
die nicht gerade hoch waren, aber sie versperrten jede freie Aussicht. An vielen Stellen konnte man eine Rinne im Boden wahrnehmen.
Das war der ehemalige Karawanenweg, aber er war versandet und verweht, und Spuren gab es nirgends.
Zwei Stunden vergingen, bis die Reiter auf einer
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