Großer-Tiger und Christian
sagte Christian, »vielleicht auch bloß eine halbe.«
»Gut«, erwiderte Dampignak, »zieht eure Mäntel wieder an, und nehmt den Daschior mit.«
»Aber das Kästchen?«, fragte Großer-Tiger.
»Wenn es euch nicht zu schwer ist«, sagte Dampignak, »so nehmt es mit. Ich bringe die Pferde zu Kao-Scheng. Erwartet mich
auf dem Berg.«
»Und wenn was passiert?«, fragte Christian.
»So tut, was ihr für richtig haltet, aber geht auf keinen Fall ins Tal.«
»Wir hören«, sagte Christian.
»Und wir gehorchen«, sagte Großer-Tiger.
Sie nahmen den leeren Reisesack Christians und taten das Kästchen hinein, sie zogen die Mäntel wieder an und wickelten sich
gegenseitig die Schärpen um. Nachher schlüpften sie aus den Stiefeln und hingen sie wie im Steinbachtal an den Daschior.
Dann begann der Aufstieg. Das Kästchen trugen sie abwechselnd. Nach einer Weile blieben sie stehen, um Dampignak zu winken,
aber sie hörten nur den Hufschlag trabender Pferde, und es war auch gar nicht anders möglich, denn die Falten des Bergstocks
erwiesen sich als enge Schluchten, die steil aufwärtszogen. Man sah hüben und drüben die Kanten, aber darüber hinaus sah man
nicht. Großer-Tiger und Christian beeilten sich, auf den ersten Absatz zu gelangen. Allein Dampignak blieb verborgen. Er musste
in ein Seitental gebogen sein, undso hoch waren Christian und Großer-Tiger noch nicht, um die vielgestaltige Bergwelt überblicken zu können.
Sie stiegen ein ausgedehntes Steinkar hinauf, und bald merkten sie, dass Barfußgehen nicht so einfach war.
»Diese Sache muss man üben«, sagte Christian, als die Steine ins Rollen kamen.
»Wir sind ja gerade dabei«, tröstete Großer-Tiger, dem sie auf die Zehen fielen; »lass mich vorausgehen.«
»Au!«, sagte Christian, »du kannst es auch nicht besser.«
Auf diese Weise unterhielten sie sich freundschaftlich, bis sie zum letzten Anstieg kamen. Da war es nicht mehr schlimm. Eine
weiche Staubschicht lag in der flachen Mulde, die zur Höhe führte, und beinah hätte Christian jede Vorsicht vergessen und
»Hallo« gerufen, weil von hier oben alles zu sehen war, was es gab.
»Hinlegen«, rief Großer-Tiger im letzten Augenblick, aber Christian lag schon. Rechtzeitig war ihm eingefallen, dass man auch
ihn von überallher sehen konnte, wenn er aufrecht blieb. Es war großartig, was man sehen konnte: Die vielen Berge, die sie
umritten hatten, die Hügel, die immer kleiner wurden, das Steinbachtal, die kleine Ebene und dahinter die große, die kein
Ende nahm, und vornedran den viereckigen Festungsklotz Möng-Schui, der wie ein Würfelchen aussah, das einer verloren hatte.
Das alles sah man, aber Christian und Großer-Tiger schauten kaum hin. Was es auf der andern Seite gab, war viel aufregender.
Nebeneinander lagen sie auf dem Bauch, und sie merkten gar nicht, dass der eigentliche Gipfel noch ein gutes Stück höher war.
Was sie von ihrem Platz aus sahen, war genug.
»Sie kochen ab«, sagte Christian.
»Also brechen sie heute noch auf«, sagte Großer-Tiger, der sofort Schlüsse zog.
»Aber wo ist der Wagen?«
»Ich sehe ihn auch nicht, bloß der Esel ist da.«
»Und Schlangenfrühling«, sagte Christian, »wo haben sie bloß den Wagen gelassen?«
»Glaubst du, dass sie uns sehen können?«, fragte Großer-Tiger nachdenklich.
»Wir wollen zur Vorsicht die Hüte abnehmen«, schlug Christian vor.
Sie krochen ein Stück zurück, nahmen die Hüte vom Kopf und legten sie auf das Kästchen neben die Stiefel. Dann schauten sie
wieder in das Tal, das einmal »Segensreiche-Unterkunft« geheißen hatte. Gegenüber erhob sich senkrecht eine braunrote Felswand,
an die sich nach hinten eine abfallende Berglehne schloss, von der man sah, dass sie in sanfte leere Steintäler mündete.
Unten an den Felsen gab es Höhlen, zu denen eine Sandbank führte, die aus dem Talgrund kam. Derresgras wuchs darin, und mächtige
Felsblöcke lagen überall herum. Die Stellen an der Wand, wo sie sich abgelöst hatten, waren kaum mehr zu erkennen. Es war
zu lange her.
Im Norden traten die Felsen mit den Abstürzen des Berges, auf dem Christian und Großer-Tiger lagen, nah zusammen. Dort war
die Schlucht, in der Mondschein saß und hoffte, dass einer käme, den er totschießen durfte.
Nach Süden zu war das Tal offen. Die Felsen brachen jäh ab, aber gleich schlossen sich sand- und staubbedeckte Hügel an. Zwischendrin
lag ein leeres Kiesband in der Sonne. Der Bach, der
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