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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Welsh
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uns beinahe aus den Augen verloren, es war so viel zu tun und so wenig Zeit dafür. Friedrich kam dann doch zurück, einer der letzten Heimkehrer, ein kranker Mann, den hat sie zu ihrem Kind gemacht, auch als er längst wieder gesund war und sich seine wiedergewonnene Kraft mit zahllosen Weibergeschichten beweisen musste. Ich dachte immer, sie hätte seine Eskapaden beinahe amüsiert betrachtet, so wie manche Mütter stolz und etwas verschämt lächelnd über die Liebschaften ihrer Söhne klagen. Vor ein paar Wochen aber fragte ich sie, ob sie an ein Fortleben nach dem Tod glaube. Da lachte sie und sagte: »Ich möchte eigentlich gern daran glauben. Stell dir vor, der Friedrich hat im Jenseits alle seine Verflossenen getroffen und muss sich bis in alle Ewigkeit ihre Vorwürfe anhören. Das wäre doch die gerechte Strafe für ihn. Und dann komme ich und streue Verständnis und Mitleid wie Salz auf seine Wunden. Wäre das nicht hübsch? Ich freu mich direkt darauf!« Wir haben eine ganze Weile herumgealbert, plötzlich wurde sie ernst. »Vielleicht erzähl ich ihm sogar von dem Studenten, der beinahe mein Enkel hätte sein können.« Ich bin fast geplatzt vor Neugier, aber sie lächelte nur und begann unser altes Spiel »Erinnerst du dich?«. Das werde ich mit niemandem mehr spielen können. Ich dachte immer, ich kenne dich besser als jeder andere Mensch, Ditta, jedenfalls gibt es schon lange niemanden mehr, der dich so wie ich als Mädchen kannte und als junge Frau. Zugegeben, da sind deine Töchter und andere, die damals Kinder waren, aber die haben dich erst als Mutter kennengelernt, als Tante, als was weiß ich, in einer Rolle jedenfalls. Und ich? War das bei mir anders? Ich hab gesehen,was du zeigen wolltest, nicht mehr. Ich habe ja immer dir die Gesprächsführung überlassen. Darin warst du gut, unübertrefflich gut. Wir haben über Gott und die Welt geredet, über deine Arbeit, über meine Arbeit, über alle möglichen und unmöglichen Bekannten und Verwandten, über Bücher, über den Zeitgeist, manchmal über mich, nie über dich. Höchstens, dass du einmal ein Zipfelchen gelüpft und über Schmerzen im Rücken oder einen eingewachsenen Zehennagel geklagt hast. Waren die Auslassungen die Basis unserer Freundschaft? Man konnte sich so wunderbar mit dir unterhalten, man kam vom Hundertsten ins Tausendste und stellte überrascht fest, dass der eigene Horizont viel weiter war, als man selbst gedacht hätte. Mit niemandem hab ich so viel gelacht wie mit dir, mit niemandem so spannende Debatten geführt. Aber letztlich bliebst du hinter einem Vorhang aus Worten versteckt. Hast du am Ende darauf gewartet, dass ich den Vorhang zur Seite ziehe?
    Wenn ich mir deine Töchter ansehe, finde ich nichts von dir in ihnen, in Theresa schon eher und ganz besonders in David und Patricia. Die beiden würde ich gern einladen, wenn ich nicht fürchten müsste, sie würden aus lauter Höflichkeit zusagen. Nein, so besonders höflich sind sie nicht, schlimmer wäre es, wenn sie nicht mich meinten, sondern nur eine der allerletzten Vertreterinnen meiner Generation. Mich als Ersatz für ihre Urgroßmutter. Als ob ich die je ersetzen könnte. Trotzdem, es wäre schön, einen Abend mit ihnen zu verbringen, beim Heurigen vielleicht. Sind wir nicht alle Ersatz für irgendjemanden, irgendeinen unerfüllten Traum? Patricia hat die gleiche Art wie du, den Kopf zurückzuwerfen, als wollte sie gleich losstürmen, auch ohne zu wissen wohin. Wie schmal ihre Augen werden bei jeder Plattitüde, und davon gibt es ja viele zu hören, auch bei deinemBegräbnis, meine liebe Ditta. Du hättest dich gewunden vor Peinlichkeit, und dann hättest du etwas gesagt, das den anderen entsetzlich peinlich wäre. Würde ihnen recht geschehen.
    Nie habe ich gewusst, was du von mir hältst, und jetzt kann ich es nicht mehr erfahren, ob da mehr war als geteilte Vergangenheit. Ich habe dir auch nie gesagt, wie wichtig du für mich warst, vielleicht hatten wir beide diese seltsame Scheu, Gefühle zu zeigen. Du warst das Maß, nach dem ich andere Menschen beurteilte. Komisch, das ist mir erst in der Woche seit deinem Tod klar geworden. Dabei hat mich so vieles an dir irritiert, mich kribbelig und gereizt gemacht, meinen Hang zum Nörgeln herausgefordert. Wie oft hab ich gedacht, wenn du noch ein einziges Mal sagst, »da muss ich schon in aller Bescheidenheit« – als hättest du je gewusst, was Bescheidenheit bedeutet –, oder eine deiner anderen stehenden

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