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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Welsh
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Redewendungen benützt, dann schrei ich. Ich habe nicht geschrien.
    Wie ich mich kenne, werde ich jeden Donnerstag um halb drei in die Firmiangasse latschen, und kurz vor deinem Haus werde ich abdrehen und mir einzureden versuchen, dass ich zum Bäcker gehen wollte. Blöd genug bin ich ja.
    Du warst meine Familie, Ditta, und über dich hatte ich einen kleinen Anteil an all den Menschen, die jetzt hier sitzen und nicht wissen, was sie miteinander anfangen sollen. Wenn die wüssten, was du über sie gesagt hast, nicht immer gerade verständnisvoll, aber immer treffend. Mich hat’s amüsiert, und du hattest Spaß daran, wenn ich geschmunzelt habe über deine Chili-Zunge, wie du sie nanntest. War auch eine sehr passende Bezeichnung. Wo habe ich nur gelesen, dass Chilis so ungeheuer gesund sind, Blutdruck senken, Gefäßwände von allen Ablagerungen befreien, Stoffwechselanregen und weiß der Kuckuck was noch? Stimmt, Ditta, deine scharfe Zunge war auch gesund, jedenfalls für diese deine Familie und alle ihre Anhängsel. Lauter Waisenkinder, alte Waisenkinder und junge Waisenkinder. Das Baby von Theresa – natürlich ist sie schwanger, dafür habe ich ein Auge, fast so gut wie deines, Ditta, vielleicht weiß es Theresa noch nicht, aber die ist schwanger, hoffentlich ist der Vater ein netter Mensch, ich weiß, ich bin altmodisch, aber ich denke immer noch, dass eine schwangere Frau jemanden braucht, bei dem sie sich anlehnen kann, wenn ihr der Rücken wehtut, also dieses Baby wird schon als Waisenkind zur Welt kommen. Sogar ich, wo ich doch deine Generation bin, Ditta, bin verwaist. Nichts hab ich dir übel genommen, das musst du selber zugeben, Ditta, nicht, dass du mir regelmäßig jeden ausgespannt hast, der anfing, sich für mich zu interessieren, nicht, dass du an mir herumkritisiert hast, dass du mir jeden einzelnen meiner Schönheitsfehler ins Bewusstsein gerückt hast, bis ich nur mehr aus Fehlern bestand, nicht, wie oft du mich versetzt hast, wenn etwas Interessanteres deinen Weg kreuzte, nicht, wie oft du von oben herab mit mir geredet hast, aber das verzeih ich dir nie. Nie! Nie verzeih ich dir, dass du dich weggestohlen hast, dass du dich verdrückt hast, ohne auch nur zu winken, einfach so, als wäre nie etwas zwischen uns gewesen. Man setzt sich nicht einfach hin, lässt die Zeitung fallen und stirbt. Das tut man nicht, Ditta, das tut man auch nicht, wenn man sich so wie du keinen Deut darum schert, was die anderen denken. Grausam ist das, hörst du? Nein, natürlich hörst du nicht, wann hast du je zugehört. Ach, Ditta. Wozu sitze ich jetzt da, nippe von dem grauslichen, viel zu süßen Wein, wozu werde ich nach Hause gehen, die Tür aufsperren, den Mantel auf den Haken am Klopfbalkon zum Auslüften hängen,die Blumen gießen, zuschauen, wie die Sprudeltablette mit meinen Zähnen Unzucht treibt, den Pyjama anziehen, das Licht löschen? Wozu? Es wird wieder Donnerstag werden, und du wirst nicht am Fenster stehen und warten, o doch, ich hab dich gesehen, du bist am Fenster gestanden und hast gewartet, aber natürlich konntest du das nicht zugeben, musstest so tun, als wäre ich zu früh gekommen und hätte dich bei einer wichtigen Arbeit gestört. Bilde dir nur nicht ein, dass ich von jetzt an am Donnerstag auf den Friedhof gehen werde. Das werde ich gewiss nicht tun. Da geh ich noch eher ins Kino, vielleicht in die Nachmittagsvorstellung im Bellaria und schau mir einen alten Film an. Gibt es das Kino überhaupt noch? Vor ein paar Jahren haben wir auf deinem alten Schwarz-Weiß-Fernseher eine Reportage gesehen über das Bellaria-Kino und seine Stammgäste, echt genial, hast du gesagt, du hast ja hin und wieder die Phrasen deiner Urenkel übernommen, wenn sie dir gefielen, echt genial, ein Gesamtkunstwerk auf diesem verregneten Bildschirm, stell dir vor, ich hätte einen von diesen modernen gestochen scharfen flachen Fernsehern gehabt, das wäre nicht mehr halb so stimmig, und dann beschlossen wir, einmal hinzugehen, aber du meintest, du müsstest dir zuvor einen Hut kaufen, so einen runden mit Krempe und Feder, schräg und keck aufgesetzt, und ich müsste mir Dauerwellen machen lassen, sonst würden wir stören.
    Ditta, ich weiß, du hast gewartet hinter deinen weißen Vorhängen. Auch wenn du das nie zugeben würdest. Neugierig wäre ich schon, ob es ein Nachher gibt und ob man sich erinnert an dieses Leben. Ob die alten Griechen recht hatten mit ihrem Lethe? Orpheus hat den Trunk jedenfalls verweigert,

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