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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Welsh
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»Wie sollen wir jetzt überhaupt noch Weihnachten feiern?« Am liebsten hätte ich sie gefragt, ob ihr klar ist, dass wir den 6. Juni haben. Aber plötzlich sah ich wie auf einer Bühne am Ende eines langen Lichtkegels den ausgezogenen Tisch mit dem Adventkranz in der Mitte und uns alle ringsum, Oma natürlich am Kopfende, sah sie einem nach dem anderen zunicken, und jeder musste sich ein Lied wünschen. ›Adeste fideles‹ klang noch sehr dünn, und ich dachte, wo sind hier die Gläubigen, die kommen sollen, ich sehe keine, bei ›Es wird scho glei dumpa‹ trauten wir uns bereits, ein bisschen lauter zu singen, das Lied hat sich natürlich meine Mutter gewünscht wie jedes Jahr, diesmal erzählte sie nicht, dass ich als Baby dabei immer verlässlich eingeschlafen bin, immerhin ein Grund, dankbar zu sein. Weiß der Himmel wie, die musikalische Qualität war es ganz sicher nicht, aber in diesem Moment der Erinnerung, mehr als ein Moment kann es nicht gewesen sein, es sind schließlich nur ein paar Schritte vom Friedhof hierher, und ich weiß, dass sich das windschiefe Regal mit Stiefmütterchen und Geranien neben dem Tor vor meine innere Bühne schob, in diesem Moment wusste ich, dass ich irgendwann Heimweh haben würde nach genau diesen alljährlichen Treffen.
    Wie oft habe ich gelästert über die Sentimentalität, mit der wir das Kind in der Krippe besangen, an den hohen Stellen gicksend, uneins über den Text – meine Mutter sang hartnäckig »und blieb doch reine Magd«, während Patricia ebenso hartnäckig auf »wohl zu der halben Nacht« bestand, der Rest verteilte sich mehr oder weniger gerecht auf die beiden Lager, und ich musste jedes Mal daran denken, dass ich als Kind dachte, da wäre ein Ross entsprungen, und gern gefragt hätte, wohin das Ross denn gerannt sei, aber es nicht wagte, weil ich ahnte, da würde ich nur wieder einmal ausgelacht, und dann bekam Papa von irgendjemandem eine Postkarte mit einem Pegasus drauf und ich war überzeugt, das sei das entsprungene Ross, wobei ich mir noch immer nicht vorstellen konnte, wie es mit diesen riesigen Flügeln in einer Wurzel zart Platz gefunden haben sollte.
    Unerträglich stickig ist die Luft hier. Aber wenn ich aufstehe und ein Fenster öffne, heißt es unter Garantie sofort, dass es zieht. Bei Großmama war die Wohnung auch immer überheizt, und mit so vielen Menschen im Esszimmer wurden die Wangen und Nasen von Minute zu Minute röter, glänzender, die ersten Schweißtropfen perlten auf den Oberlippen. Wie viele von diesen inbrünstig Singenden, Brummenden, Quäkenden dachten auch nur einen Augenblick daran, dass das rührende Jesulein dazu geboren war, am Kreuz zu sterben. Die Welt zu erlösen. Uns zu erlösen. Zuallererst müssten wir von uns selbst erlöst sein, bevor man die Sache mit der Welt anpacken könnte. Trotzdem.
Exultate, jubilate
. Meine Mutter bekam ihren fernen Blick und sagte, wie schön es wäre, wenn es endlich wieder ein Baby gäbe in der Familie. Bedaure außerordentlich, Mama, deine Kinder haben es beide nicht geschafft, gelungene Ehen zu führen. Abgesehen davon, Mama, werden alle warmen, nach Milch duftenden Säuglinge mit jedem Tag älter und erreichen unweigerlich das Trotzalter, von dem du behauptest, Theresa und ich wären nie aus diesem herausgewachsen.
    Werden wir nicht alle geboren, um zu sterben? Das immerhin haben wir gemeinsam, und dieses Ziel schaffen wir auch alle, egal wo wir sonst versagt haben.
    Warum habe ich dich nie gefragt, Großmama, wie du’s hältst mit der Religion? Ich weiß, du hast an das Kind in der Krippe geglaubt, an die zwei gar armen Leut, die an fremde Türen klopfen mussten, an Ochs und Esel, an die Hirten und die drei Weisen, aber sonst? Über so viele Dinge haben wir geredet. Sollte es ein Wiedersehen geben, dann werde ich dich das fragen, was wir ausgelassen haben. Was dann ja wohl nicht mehr nötig sein wird.
    Kannst du dich erinnern, wie wir beide Gesichterschneiden gespielt haben? Ich habe gewonnen, ich habe die ganze Zeit an fettes, flachsiges Fleisch gedacht, vor dem mir gegraust hat, so konntest du mich nicht zum Lachen bringen. Als du uns nachwinktest vom Fenster aus, hast du mir plötzlich eine lange Nase gezeigt und dazu mit dem kleinen Finger heftig gewackelt, da musste ich so lachen, dass ich unmöglich weitergehen konnte, wie festgewurzelt stand ich da, auch als Mama mich wegzuziehen versuchte. Da hast du den Kopf gehoben und sehr huldvoll nach links und rechts genickt, wie eine

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