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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Welsh
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Familienporträts zu machen. Ich könnte natürlich das Handy nehmen. Das Blöde ist nur, dass Mama mehr darunter leiden würde als er. Egal, was er ihr antut, sie verteidigt ihn. Behauptet, das wäre die Liebe. Wenn das die Liebe ist, dann bewahre mich Gott davor. Dieser F. T. hat keinen Funken Schamgefühl. Der sabbert ja direkt, richtig klebrig, ein Königreich für eine Gießkanne mit kaltem Wasser. Ich halte es einfach nicht aus in diesem Panoptikum. Wenn mich einer anredet, hau ich ihm die Handtasche über den Kopf. Es lebe die Handtasche.

Lisa erklärte den Gästen, sie müssten sich leider etwas gedulden, weil alles frisch gemacht würde. Sie füllte die Wassergläser, ließ sich Zeit damit. Es ist leichter, Gäste bei Laune zu halten, wenn sie sehen, dass man um sie bemüht ist. Was sie am schlechtesten aushalten, ist der Eindruck, dass sich niemand um sie kümmert. Kaum haben sie ein Gasthaus betreten, werden sie zu quengelnden Kleinkindern. Man muss ihnen das Gefühl geben, dass sie wichtig sind, dass sich alles nur um sie dreht. Der große Dicke hob die Hand und verlangte die Weinkarte, runzelte die Stirn und entschied sich nach eingehendem Studium für den teuersten Weißwein. Gewonnen, dachte Lisa, ich war sicher, dass er den nimmt. Er war eindeutig nicht der Hauptleidtragende und zeigte sich großzügig auf Rechnung des Erbes, das anderen zufallen würde. Sie lächelte, er fasste das als Einladung auf und glubschte auf ihren Busen. Vielleicht mach ich einmal eine Untersuchung über die richtige Dosierung des Lächelns bei einem Leichenschmaus. Breites Lächeln ist unpassend, Leichenbittermiene ebenso, damit maßt man sich an, dazuzugehören.
    »Er will eine Rede halten« , sagte Lisa zu Alban, »du sollst den Wein einschenken.« Sie wandte sich an die Köchin: »Lass dir ruhig Zeit. Du musst dich nicht hetzen.«
    Die Köchin nickte. Sie lasse sich sowieso von niemandem hetzen – außer vielleicht von sich selbst. Alban stand da und drehte sein Geschirrtuch zu einem festen Tau, als er
es merkte, warf er es zornig in die Ecke, hob es gleich darauf auf, schüttelte es aus und legte es mit ungeheurer Behutsamkeit auf den Stapel gebrauchter Tischtücher im Plastikkorb hinter der Tür.
    Es hat nicht funktioniert, dachte Lisa. Sie bemühte sich, nicht wütend auf Alban zu werden, es fiel ihr schwer. Der Trottel zelebriert seinen Status als unglücklich Verliebter. Was zum Teufel wirft er sich vor, dass er es nötig hat, sich ständig selbst ein Bein zu stellen? Das ist vielleicht etwas für Akrobaten, Schlangenmenschen oder was weiß ich. Ich wollte, ich könnte ihn beuteln, bis er Verstand annimmt.

Raffael, 43
    Natürlich muss meine Mutter mit ihrem unnachahmlichen Taktgefühl sofort fragen, wie es Lilly geht. Dabei weiß sie genau, dass ich so ungefähr der Letzte bin, den Lilly anrufen würde, noch dazu, wo sie wohl kaum ein Telefon am Bett hat in diesem Buschkrankenhaus. Okay, mir soll’s recht sein, nicht jedes Krankenhaus in Afrika ist ein Buschkrankenhaus, ich nehm’s zurück. Würde mich auch nicht anrufen, wenn sie ein Telefon am Nachtkästchen hätte, gesetzt den Fall, dass es dort so etwas wie ein Nachtkästchen gibt. Dabei sind wir schon lange nicht mehr böse aufeinander, sie käme nur einfach nicht auf die Idee. Ob sie schon erfahren hat, dass Großmama tot ist? Tot ist. Immer wieder muss ich es mir sagen. Sie. Ist. Tot. Dabei hätte ich erwartet, du würdest uns alle überleben, schon allein, weil du uns nicht eben viel zugetraut hast, weil du überzeugt warst, ohne dich würde dieser ganze Haufen, der sich Familie nennt, implodieren oder explodieren, jedenfalls im Streit untergehen. Wenn es möglich war, »wir« zu sagen, dann in Bezug auf dich, das stimmt wohl.
    Lilly wird es leidtun, glaube ich, dass sie sich nicht von dir verabschieden konnte. »Großmama hat auch gesagt«, wie oft habe ich das von ihr gehört. Mit einer solchen Großmutter hätte man überhaupt kein Recht, sich über das Elend seiner Kindheit zu beklagen, das hat Lilly natürlich nicht in so vielen Worten gesagt, das schwang nur mit in jeder Auseinandersetzung wie die
sympathetic strings
einer Laute, dasschimmerte durch wie die Grundierung eines Bildes. Warum soll ausgerechnet ich Lilly schreiben? Ich denke, das ist Davids Aufgabe, wenn nicht überhaupt die der Frauen in der Familie, zu denen hat Lilly schließlich mehr gehört als zu mir.
    Auf dem Weg vom Friedhof hierher hörte ich Mutter zu Tante Friederike sagen:

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