Großmutters Schuhe
da hat mich dieser große Mann aufgehoben, nie wieder habe ich einen so schönen Mann gesehen, er hat mich auf seinen starken Armen zur Mamá getragen, die am Rand zugeschaut hat, und dann zum Taxi, wir sind nämlich Taxi gefahren, das war etwas Besonderes. Mamá ist höchstens viermal in ihrem Leben Taxi gefahren, zu ihrer Hochzeit, zu der ihrer Schwester, zum Begräbnis ihres Vaters, ihre Mutter ist ja während des Krieges gestorben, da gab es keine Taxis, und eben damals mit mir. Mamá hat geglaubt, ich weine vor Schmerzen, aber Mamá hat mich nie verstanden, damals nicht und später noch weniger. Wie bin ich aufs Eis gekommen? Wenn dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis tanzen. Doppelaxel, den hätte ich so gern probiert,aber ich hab mich nicht getraut. Jetzt würden sie wieder sagen, ich bin verkalkt, nein, heute sagen sie das ja nicht mehr, heute muss alles einen Namen haben, den keiner versteht, irgendwas mit Menthol sagen die einen und mit Alzen die anderen, was immer das heißen soll. Irgendwo war ein Fluss, der hieß Alz, da haben wir geangelt, Forellen, glaube ich. Eine Alz, zwei Alzen, drei Alzen. Die Alzen balzen auf den Walzen und schnalzen. Verkalkt finde ich hübscher, das klingt so weiß und frisch. Als ich ein Kind war, haben sie in den Bauernhäusern eine Spur Waschblau in den Kalk gerührt. Wenn die wüssten, wie praktisch es ist, dass sie denken, du bist verkalkt. Wenn die wüssten, welchen Spaß es mir macht, beim Essen zu kleckern und Riekes angewidert verzogenen Mund zu sehen. Aber Ditta könnte endlich kommen, jeder Scherz hat ein Verfallsdatum, heutzutage hat alles ein Ablaufdatum, sogar Zucker und Salz, auf die Idee wären wir nie gekommen.
Da war etwas mit Eis. Eis hat kein Ablaufdatum, Eis tropft oder schmilzt. Wenn man Schokolade-, Vanille- und Erdbeereiskugeln in einem Becher rührt, bekommt man schöne Schlieren, braun, gelb, und rot, wirklich hübsch, aber wenn man zu lange rührt, wird’s ein fader Brei. Eis essen. Warum habe ich an Eis gedacht? Ein Taftkleid hatte ich an, das hat geknistert bei jeder Bewegung. Ditta trug rot. Mein Geburtstag! Ein Fesselballon ist vor unserer Schule gelandet, hat sie behauptet, und wird mit uns zum Tiergarten fliegen. Wir haben uns aus der Wohnung geschlichen, alle acht, die anderen konnten schneller rennen, ich hatte ja die neuen Spangenschuhe an, ich bin gestolpert und hingefallen und habe mein neues Kleid zerrissen. Als ich zur Schule kam, standen sie im Halbkreis und haben geschrien. »Ätsche, pätsche, reingefallen! Bist die Dümmste von uns allen!«Mamá hat ihnen geglaubt, dass ich sie zum Hinauslaufen überredet hätte, ich musste an meinem Geburtstag ohne Abendessen ins Bett gehen und bekam zur Strafe im nächsten Jahr keinen Kindergeburtstag. Weil du dich nicht benehmen kannst. Nimm dir ein Beispiel an Ditta. Immer Ditta. Angeblich war es in der Schule genauso, Gott sei Dank war sie nicht in meiner Klasse, konnte sie gar nicht sein, sie war ja viel älter, auch wenn sie später immer so getan hat, als wäre sie die Jüngere von uns beiden. Alle Erwachsenen haben Ditta für ein Engelchen gehalten. Bitte, liebe Tante, danke, liebe Tante. Küsschen links und Küsschen rechts, Knicks und Augenaufschlag, Grübchen in den rosaroten Bäckchen. Wir haben es besser gewusst. Die anderen haben auch nur mitgemacht, weil sie wussten, sonst sind sie das nächste Opfer. Ich hab auch mitgemacht, wenn ich ausnahmsweise nicht an der Reihe war. Wie sie später den Männern die Köpfe verdreht hat. Einmal getanzt wie eine Mänade, einmal mit schief gelegtem Kopf und runden Augen zugehört, einmal königlich unnahbar, einmal Kunstliebhaberin, einmal lernbegierige Schülerin, einmal anschmiegsam, einmal verrucht – alle Register hat sie gezogen. Kaum hat einer Interesse an einem anderen Mädchen gezeigt, ist sie losgezogen wie ein Jagdhund. Das hat auch nicht aufgehört, als sie längst verheiratet war und Kinder hatte. Sobald ein Mann in der Nähe ist, muss sie dafür sorgen, dass er nur mehr sie anschaut. Alte, Junge, Kluge, Dumme, Dicke, Dünne, da ist sie wie der, na sag schon, der mit der Champagnerarie, dieser, ist auch egal, wie er heißt, der mit dem Diener, der Buch führt über seine Eroberungen. Ob sie auch Buch führt? Don Giovanni, wer sagt’s denn. Und der Diener heißt Leporello. Bitte schön! Da soll noch einer sagen, ich bin nicht mehr richtig im Kopf.
Wir haben sie gerade begraben. Wer hat das behauptet? Ein geschmackloser Scherz,
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