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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Welsh
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wirklich. Genau genommen sind ihre Scherze fast immer geschmacklos. Das Krampuskränzchen verzeih ich ihr nicht, wo sie mit dem Arthur auf dem Balkon verschwunden ist, man hat nur ihre Zigaretten glühen gesehen, er links, sie rechts, zwei Meter voneinander entfernt am Anfang, später war es viel weniger, aber er hat mich überhaupt nicht mehr angeschaut, am nächsten Tag ist er zurück an die Front gefahren, und ein paar Wochen später war er tot. Er war beinahe so schön wie der Mann auf dem Eislaufplatz.
    Nicht einmal in Ruhe essen lassen sie einen, ich will endlich mein Geschnetzeltes haben. Wieso ist mein Teller leer? Blödsinn, ich soll das selbst gegessen haben, wer sagt das? Und wer ist der Kerl, der so wichtigtuerisch aufgestanden ist? Hält er sich für den Vorsitzenden bei Gericht oder in einem Aufsichtsrat? Nachsitzen, Herr Vorsitzender. Nein, das sagt man nicht. Sonst schimpfen sie wieder, das macht mich ganz konfus. Aber es ist doch wirklich lächerlich, wie der aufsteht, sein Sakko glatt streicht, den dritten Knopf schließt, als wäre es eine heilige Handlung. Ein Knopf, ein Knopf, ein Hosenknopf, und vorwärts, rückwärts, seitwärts aus und – wie geht das weiter?
    Warum hilft mir denn keiner, ich habe immer allen eingesagt, wenn sie nicht weiterwussten. Jetzt hebt er sein Glas, blickt in die Runde, zählt er uns? Seid ihr alle da? Wer nicht da ist, soll nein sagen. Ich bin nicht da. Nicht ganz bei Trost, hat vorhin eine von diesen Jungen gesagt, aber nicht die gelbe, die gelbe ist die Patricia, von der redet Ditta am meisten, wahrscheinlich weil sie ihr am ähnlichsten ist, und diese da, die nicht die Patricia ist, hat dabei mich angeschaut. Warum sollte ich bei Trost sein oder nicht bei Trost? Trostbraucht, wer Trauer hat. Hab keine Trauer. Mir geht’s gut, danke, liebe Tante. Küss die Hand, liebe Tante. Selbstverständlich, liebe Tante. Augentrost blüht weiß, Männertrost blüht blau. Nein, Männertreu. Männer treu, was für ein Schwachsinn!
    Der junge Mann gegenüber muss einen Bloodhound haben, es heißt doch immer, dass Herrchen und Hund einander ähnlich werden. Stirn voller Falten, Wangen ein bisschen schlaff, werden bald noch mehr hängen, treuer Blick. Blick reimt sich auf dick und Trick und fick. Pfui, fick sagt man nicht. Das Wort gab es noch gar nicht, als wir gelernt haben, dass man es nicht sagt. Es klickt so hübsch an die Zähne, auch wenn es nicht mehr die eigenen sind. Klick reimt sich auch auf Blick. Dichterin hätte ich werden müssen. Leider waren die schönen Gedichte alle schon geschrieben, als ich damit anfing. Alle Herzen mit Schmerzen in Terzen und Scherzen. Das ist doch nicht Thomas, Thomas, Enkel von Edith? Der so zum Anbeißen war mit seiner Marzipanhaut und seinen blonden Locken? Doch, das ist er. Was das Leben aus uns macht. Wie kann man etwas Schönes so verschandeln? Verschandeln kommt von Schande. Sollte sich schämen. Armer alter Kater.
    Wer? Das Leben natürlich. Ein armer alter Kater, das Leben.
    Jetzt greift der Herr Vorsitzende, nein, er steht ja, also ein Vorsteher, Vorstehhund wäre mir lieber, die sind viel hübscher, greift nach seinem Glas, hebt es. Pointer heißt das. Hab nicht umsonst Englisch gelernt. Lasset uns trinken, sagt er. Genau derselbe Tonfall, in dem unser Pfarrer sagt, Lasset uns beten, und jetzt schaut er strafend zu mir her, hab ich etwa laut gelacht? Lasset uns trinken, fängt er wieder an, noch eine Spur salbungsvoller, »Lasset uns trinken auf dasAndenken unserer lieben Urgroßmutter, Großmutter, Großtante, Mutter, Schwiegermutter, Tante …«
    Kusine hat er vergessen. »Kusine!«, sage ich laut.
    »Auf das Andenken unserer geliebten Edith«, fährt er fort und führt das Glas an seine Lippen. Schlampige Lippen hat er, irgendwie ausgeleiert.
    Alle stehen auf. Ich bleibe sitzen, kann ja nicht aufstehen. Warum sind alle Gesichter so verschwommen? Einer von Dittas dummen Scherzen, diesmal falle ich nicht darauf herein. Ätsche, pätsche, nein! Bereits zum dritten Mal zupfe ich meine Begleiterin am Ärmel, ihren Namen merke ich mir nicht, lohnt sich ohnehin nicht, eine kommt, eine geht, immer eine andere. Sie soll mir meine Jacke um die Schultern legen oder den Shawl. Es ist so verdammt kalt hier. Verdammt sagt man nicht, gleich bekommst du den Mund mit Seife ausgewaschen, wenn du so böse Wörter sagst, aber das ist mir egal, ich sage verdammt, so oft ich will, verdammt oft sag ich verdammt, und die Seife spuck ich aus, wenn Mamá

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