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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Welsh
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Andreas? Ich werde dir ein Schweizer Offiziersmesser kaufen.

Lisa stellte fest, dass sie große Lust hätte, die einzelnen Mitglieder dieser Tischgesellschaft als Prototypen einer Schicht zu interviewen, die es bald nicht mehr geben würde. Auch die Jungen, die eigentlich nicht mehr richtig dazugehörten, obwohl sie so aussahen, sich auch noch so benahmen, aber wahrscheinlich nur im Rahmen dieses Ereignisses. Unter ihren Freunden, in dem Kreis, dem sie sich zugehörig fühlten, waren sie mit Sicherheit ganz anders als im wogenden Busen der Familie. Wie die Frau in der gelben Bluse darauf achtete, gerade zu sitzen, nicht zu gestikulieren. Gelbe Bluse – warum nicht Hankas Namen für die junge Frau übernehmen – hatte für heute anscheinend ihr Rebellionspotential mit der unpassenden Kleidung aufgebraucht, jetzt fiel sie zurück in die alte Rolle, die immerhin ein wenig Sicherheit bot und es ihr gestattete, hin und wieder den Mund zu verziehen. Sobald sie die Blicke der älteren Frauen spürte, senkte sie die Lider und studierte die Ranken auf dem weißen Damasttischtuch. Der Dicke neben ihr hatte offenbar Mühe, seine Hände für sich zu behalten. Eine von den alten Frauen versuchte vergeblich, ihre Füße in eine Stellung zu bringen, wo die Schuhe nicht drückten. Sie hob abwechselnd die Fersen, verlagerte wieder das Gewicht nur auf die Absätze, und die Schmerzfalten in ihrem Gesicht prägten sich immer stärker aus. Lisa hatte Mitleid mit ihr, sie war es offenbar nicht gewöhnt, Pumps zu tragen. Aber anscheinend war es ihr wichtig, zu diesem Anlass korrekt
angezogen zu sein. Die anderen älteren Frauen trugen Gesundheitsschuhe. Was für ein Unsinn, älter zu sagen, wenn man alt meinte. Im Übrigen waren sie an diesem Tag tatsächlich älter geworden, weil sie die Älteste zu Grabe getragen hatten.

Elvira, 86
    Wer soll da begraben worden sein? Das ist wieder einer ihrer sogenannten Scherze. Die stecken alle unter einer Decke. Mit mir kann man das machen, mich haben sie immer schon für blöd gehalten, weil ich einfach zu gutgläubig war. Und zu gutmütig. An meinem siebenten Geburtstag, unterbrecht mich nicht schon wieder, was soll das heißen, es hat keiner was gesagt, man kann auch unterbrechen, ohne etwas zu sagen, natürlich war es der siebente, es gibt sogar ein Foto davon, ich in dem schottisch karierten Taftkleid mit der breiten Schärpe, die Schneiderin meiner Mamá hat das genäht, die mit den kleinen Mäusezähnchen, die später den Wie-hat-er-noch-Geheißen geheiratet hat, darüber haben sich die Damen wahnsinnig aufgeregt, weil doch die Dingsda damit gerechnet hat, dass er ihr Schwiegersohn wird und ihre zickige Tochter eine Frau von, na bitte, mein Gedächtnis funktioniert. Ich in meinem karierten Taftkleid, Eis haben wir gegessen. Das haben wir nicht beim Italiener geholt, o nein, schon zeitig in der Früh sitz ich am Fenster, und sobald der große Laster um die Ecke fährt, muss ich Mamá rufen, sie rennt aus der Wohnung und kommt dann bald die Stiege herauf hinter diesem düsteren Mann mit dem Lederschurz über der Schulter, darauf liegt der Eisblock, und der Mann lässt den Block in den Bottich fallen, das gibt ein ganz besonderes Geräusch, klirrend und dumpf zugleich, und dann reicht ihm Mamá den riesigen Fleischklopfer und er hebt ihn hoch über seinen Kopf und lässt ihn niedersausen aufdas Eis, und jedes Mal schreie ich auf, weil ich sicher bin, er wird meine Mamá erschlagen, und das Eis splittert durch die ganze Küche. Wenn der Mann endlich gegangen ist, muss ich die Eisstückchen einsammeln und in den Bottich werfen. Ich spür noch dieses Gefühl in der Handfläche, Eisbrennen hab ich es genannt, und Papá hat darüber gelacht. Zwischen die Eisstücke schob Mamá eine silbrig glänzende Dose mit einer Kurbel im Deckel, und diese Kurbel musste gedreht werden, stundenlang. Ich war stolz, wenn ich die Kurbel drehen durfte, obwohl nach kurzer Zeit meine Oberarme wehtaten. Immer wollte ich den Deckel lüpfen, aber das war streng verboten, es hieß, das Eis würde verderben, das Backrohr durfte man auch nicht öffnen, wenn ein Biskuit oder ein Soufflee darin war, weil das dann sitzen blieb, Eis konnte ja wohl schlecht sitzen bleiben, sitzen bleiben war etwas Furchtbares, Mamás Freundinnen bekamen Falten auf der Stirn und traurige Augen, wenn sie von Sitzengebliebenen redeten, egal ob das Schulkinder waren oder erwachsene Frauen. Ich bin auch einmal sitzen geblieben, auf dem Eislaufplatz,

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