Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Großstadt-Dschungel

Großstadt-Dschungel

Titel: Großstadt-Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Mlynowski
Vom Netzwerk:
Person zu spüren, bevor deren Gegenwart in mein Bewusstsein dringt.
    Wie sonst hätte ich wissen können, dass beim ersten Mal Tim angerufen hat? Dass er zehn Nachrichten hinterlassen hat, hat damit nichts zu tun. Und auch die Tatsache, dass ich jemanden atmen hören kann, hat damit nichts zu tun.
    „Was ist?“ frage ich und schlage die Augen auf. Sam sitzt auf meinem Bett und sieht mich an.
    „Großartig. Du bist wach. Warst du in dem explodierenden Zug?“
    „Wie spät ist es?“
    „Spät. Ich habe es gerade in den Nachrichten gesehen.“
    Ich springe aus dem Bett. „Echt? Ich war im Fernsehen? Hast du es aufgenommen? War die Aufnahme gut? Hast du mich mit Andrew gesehen?“ Wie oft zeigen sie die gleichen Nachrichten, bevor sie sie durch neue ersetzen? Zwei Mal? Drei Mal? Mindestens vier Mal, ganz sicher. Yeah! Jeremy sieht mich zusammen mit Andrew.
    „Wie sollte ich es aufnehmen, wenn ich noch nicht mal wusste, was kommt? Wann warst du zu Hause? Ich habe dich gar nicht gehört. Geht’s dir soweit gut?“
    „Ja, alles okay. Ich habe mir mit jemandem ein Taxi genommen, der in der Nähe wohnt.“ Der Bademeister.
    Ich schiebe ein Video in den Rekorder und programmiere es auf die nächsten Nachrichten. Ein paar Stunden später sind die Bilder von mir wieder im Fernsehen. Die Einstellung dauert etwa eine halbe Sekunde – ich sitze allein auf dem Schneeberg und starre ins Nichts. Ich sehe total dämlich aus.
    „Du siehst so traurig aus“, sagt Sam und streicht mir über den Kopf.
    Da
muss
noch mehr von mir kommen. Das ist mein Durchbruch! Jetzt ist der brennende Zug zu sehen. Ich versuche es auf einem anderen Kanal. Ein Reporter berichtet kurz von den Ereignissen. Dann werden Bilder von Bulldozern im Wald gezeigt. Schnitt. Wir steigen in die Busse. Schnitt. Wir steigen aus den Bussen aus. Schnitt. Wieder das Feuer. Schnitt. Links, rechts, links, rechts. Schnitt. Ein Interview mit der Frau in dem roten Regenmantel und dem Dutt. Wieso hat man die interviewt? Sie kriegt ein zweiminütiges Interview, und mich lässt man eine halbe Sekunde traurig gucken.
    Die Frau, die mit dem Bademeister geredet hat, füllt den Bildschirm. Selbst die darf im Fernsehen reden! „Ich war geschockt“, sagt sie. „Absolut geschockt. Die Flammen im Wagen haben einfach alles verschlungen.“
    „Die hat nur Scheiße im Kopf! Kein Stück geschockt war sie. Sie hat im Zug den Mann ihres Lebens getroffen. Im Bus sind sie sich wahrscheinlich einig geworden!“ Schlampe.
    „Du kennst sie? Du kennst die Frau da im Fernsehen?“
    Ich gebiete Sam mit einer Handbewegung zu schweigen und verfolge die lodernden Flammen auf dem Bildschirm. Der Reporter nimmt einen Mechaniker ins Kreuzverhör, um nach den Ursachen des Unglücks zu forschen. Schnitt. Ich hasse die Nachrichten.
    Cupid ist über die Feiertage geschlossen. Das ist in gewisser Weise enttäuschend, weil ich eine erstklassige Ausrede hätte, um anzurufen und wegen psychischer Anspannung einen Tag freinehmen könnte. Ich frage mich, ob ich in einer Woche ein Posttrauma geltend machen kann. Es geschieht nicht täglich, dass ein Mensch dem Tod so nahe ist.
    An diesem Abend kommt Andrew vorbei, um sich die Aufnahme der Nachrichten anzusehen. Auf meinen Vorschlag hin, muss ich bedauernd hinzufügen.
    „Du hast so traurig ausgesehen“, sagt er zu der halben Sekunde meiner Bildschirmpräsenz. Dann schauen wir uns „Speed 2“ an. Er sitzt am einen Ende des Sofas, ich hocke am anderen.
    Bislang hat es noch keinen Körperkontakt gegeben. Als er klingelte, habe ich die Tür aufgemacht und so getan, als ob ich in der Küche etwas kochte. Nun ja, irgendwas habe ich auch aus der Packung geholt. Auf die Art konnte ich den möglichen unbeholfenen Begrüßungskuss auf die Wange vermeiden. Keiner von uns hat das Offenkundige bisher auch angesprochen. Ist es nicht merkwürdig, dass wir zu schüchtern sind anzusprechen, woran wir beide gerade denken?
    „Jess hat gestern angerufen.“ Er sieht weiter auf den Fernseher und nicht zu mir. Warum sieht er mich nicht an? Oh-oh. Warum kommt er jetzt mit Jess? Ich hasse es, dass er jetzt mit Jess kommt. Die letzten Monate war ich auf einer Seite des Spielfelds – auf der platonischen. Der brennende Zug aber hat mich geradewegs auf die andere katapultiert. Und jetzt will er mich wieder auf die platonische Seite zurückschieben, indem er seine vorherige Beziehung mit mir diskutiert. Das haut nicht hin.
    „Und? Liebt sie dich nach deinem

Weitere Kostenlose Bücher