Großstadt-Dschungel
sicher, ob ich wieder eingeschlafen bin.
„Okay. Mach’s gut, Jackie.“
„Bye.“
Ich weiß, dass ich hier etwas herzlos bin. Aber ist es nicht trotzdem weniger gemein, eine Sache am Telefon oder per E-Mail klar und sauber zu beenden, als die Agonie in die Länge zu ziehen? Man erinnere sich an die Fashion-Maga-zin-Spaßregel Nummer fünf: Es ist besser, gleich am Anfang einmal gemein zu sein, als ihn ewig hinzuhalten. Ja, sicher, wir stehen nicht gerade am Anfang unserer Beziehung, wenn man bedenkt, dass wir schon (eine Art) Sex hatten, aber ist es vom Prinzip nicht dasselbe?
Ein paar Stunden später weckt mich das Klingeln des Telefons erneut.
„Komm drüber weg, Tim“, murmle ich in den Hörer. Wir beide sind Geschichte. Aus. Vorbei. Kaputt.
„Ich habe dich bei deinem Vater angerufen, aber du warst nicht da.“ Es ist Iris’ vorwurfsvolle Stimme.
Scheiße. Ertappt.
„Mach dir keine Gedanken“, fährt sie fort. „Ich kann Geheimnisse für mich behalten. Ich habe es eher zufällig rausgekriegt. Als ich angerufen habe, war dein Vater wohl ein wenig verwundert. Und dann hat er gefragt: ‚Wie geht’s Jackie und dir denn?‘ Ich habe zwei und zwei zusammengezählt und musste mir schleunigst einen Grund einfallen lassen, warum ich deinen Vater angerufen habe, wo du gar nicht da bist, also habe ich mich erinnert, dass er Mäntel oder so was verkauft, und ihm erzählt, dass ich deinen so toll finde und ob er mir nicht einen bestellen kann. Er antwortete, dass er nicht mehr genau wisse, welchen du hast, und so beschrieb ich mehr oder weniger meinen Traummantel, und er sagte, jetzt erinnere er sich wieder und er würde mir einen schicken! Er ist ja wirklich ein Schatz. Ich habe deinen Arsch gerettet, kann das sein? Wo warst du also, Jackie? Hm?“
„Ich habe Wendy besucht, aber wenn du das jemals jemandem verrätst …“
„Soll ich dir mal was sagen?“ unterbricht sie mich. „Ich hab Kyle genommen.“
Ich versuche zu verstehen, was sie meint. Vielleicht machen ihre Worte für mich keinen Sinn, weil ich erschöpft bin. Sie hat ihn mit ihrem Körper genommen? Auf die Gefahr hin, leicht senil zu wirken, frage ich: „Was meinst du damit? Hast du ihn richtig genommen?“
„Es ist eine Redewendung, Jack. Eine Redewendung. Egal, wir haben ein bisschen geknutscht.“
„Du hast also nicht mit ihm geschlafen?“
„Nein, entspann dich. Ich bin immer noch Jungfrau.“
„Du würdest mir doch sagen, wenn es anders wäre, oder?“
„Ganz sicher.“
Ich bringe sie um, wenn sie lügt. Nicht dass ich wüsste, ob sie lügt.
„Hast du Lust, Silvester mit mir zu feiern? Wir könnten die ganze Nacht durchmachen.“ Ich fühle mich etwas schuldig, sie Weihnachten versetzt zu haben. Und ich habe sowieso keine Verabredung für Silvester. Wie habe ich das denn hinbekommen? Ach ja, ich habe mit Tim Schluss gemacht. Andrews Gesicht taucht plötzlich vor meinem inneren Auge auf. Wenn ich ihm gefallen würde, hätte er dann inzwischen nicht schon angerufen? Hätte er mich nicht wegen Silvester gefragt? Müsste er sich nicht wenigstens erkundigen, wie es mir nach der Beinahe-Katastrophe geht? Mit Katastrophe meine ich das Feuer, nicht den Kuss.
„Nein.“
Nein?
„Die Alten fahren nach Arizona. Sie lassen mich über Neujahr allein.“
„Mach keine Party.“
„Aber selbstverständlich mache ich eine Party! Es ist Silvester, und ich habe das Haus für mich allein. Janie hat es mir aber auch erlaubt.“
„Hat sie?“
Ich kann mir das kaum vorstellen.
„Sie meinte, dass ich zu Hause vermutlich sicherer sei als unterwegs auf der Straße.“
Macht Sinn, nehme ich an. „Aber ich wette, sie wissen nichts von Kyle.“
„Wehe, du sagst ihnen was. Dann bring ich dich um. Obwohl ich glaube, dass sie es eh schon wissen. Ich erzähle ihnen nichts von New York, wenn du ihnen nichts von Kyle sagst.“
Wie reimt sich das auf „Ich kann Geheimnisse für mich behalten?“
Als ich das dritte Mal wach werde, liegt es an dem Gefühl, nicht allein zu sein. Das ist auch so eine Sache. Seit dem Brand habe ich übersinnliche Fähigkeiten entwickelt. Das gibt es ja auch bei Menschen, die dem Tod sehr nahe kommen und ein weißes Licht sehen und fortan mit den Toten sprechen können. Aber ich habe zu dem Zeitpunkt meine Linsen nicht drin gehabt, und weil ich das weiße Licht nicht sehen konnte, hat meine Erfahrung ein gänzlich anderes Phänomen provoziert. Geh zur Seite, Bruce Willis! Ich habe jetzt die Fähigkeit, eine
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