Großstadt-Dschungel
Schreckliches? Bin ich ein schrecklicher Mensch? Ich bin ein schrecklicher Mensch. Ich habe es verdient, meine Stiefel zu verlieren; das ausgleichende Karma ist überall.
Halt! Ich könnte im Fernsehen sein! Werde ich im Fernsehen sein? Ich war nur einmal im Fernsehen, und zwar während einer Schulaufführung zum Weihnachts- bzw. Hakkunahfest. Allerdings verkleidet als Tannenbaum, ich war gar nicht zu erkennen.
„Das ist der Bus.“ Andrew zeigt mit dem Finger in die Dunkelheit. Denkt er, ich sei blind? Ja, sicher, in gewisser Weise bin ich blind. Endlich, das Dickicht lichtet sich, ganz wörtlich. Er hilft mir, in den Bus zu steigen. (Eigentlich könnte ich über die Sache mit den Linsen ganz glücklich sein, was die mir schon alles gebracht hat.) Wir suchen uns zwei Plätze weiter hinten. Er sitzt am Fenster und legt seinen Arm um mich. Aha! Er mag mich. Vielleicht. Der Busfahrer legt den Film „Speed“ ein, was uns beide verwundert, da es doch um explodierende Fortbewegungsmittel geht. Das rote Glühen auf dem Bildschirm ist das einzige Licht im Bus.
Er riecht apart. Und gar nicht mehr wie Jer. „Du riechst gut.“
„Danke. Meine Eltern haben mir zu Weihnachten ein neues Rasierwasser geschenkt.“
„Es gefällt mir. Wie spät ist es?“ will ich wissen.
„Fast Mitternacht.“
„Wir hätten um neun in Boston ankommen sollen.“ Ich fühle seinen Atem an meiner Wange. Sollte ich ihm mein Gesicht zudrehen oder weiter auf das Gepäcknetz direkt vor mir starren? Warum starre ich auf das Gepäcknetz direkt vor mir?
Wenn ich mich drehe, küssen wir uns. Es wird passieren, ich weiß es einfach. Wird es passieren? Eventuell, denke ich. Ich bin mir nicht ganz sicher.
Er rührt sich nicht. Sein Arm ist noch immer um mich gelegt. Noch immer. Um. Mich. Gelegt.
Wird er sich bewegen? Sollte ich mich bewegen? Sollte ich mich an ihn lehnen? Will ich, dass es passiert?
Es passiert. Warum sind es in einem kalten Bus plötzlich fünfzig Grad?
Ich drehe mich zu ihm.
Sein Gesicht ist keine vier Zentimeter von meinem entfernt. O mein Gott!
„Ich habe nichts dagegen“, flüstert er reglos.
Was? Was? Er hat nichts gegen die Verspätung oder gegen den Umstand, dass wir uns gleich küssen? „Ich glaube, ich auch nicht.“
Lippen. So. Nah. Das ist lächerlich. Warum tut er es nicht endlich?
„Ich habe es zum Glück nicht besonders eilig“, sagt er.
„Ja, ich habe es auch nicht eilig“, erwidere ich.
Lippen. Genau. Vor. Mir.
Das ist dumm.
Ich tue den ersten Schritt und küsse ihn.
Ich kann nicht fassen, dass ich es getan habe.
Nicht dass es ihm unangenehm zu sein scheint.
Ein paar Einstellungen auf dem Bildschirm später lasse ich los.
Ein perfekter Kuss.
An seine Schulter gelehnt, schlafe ich ein.
Das Telefon klingelt um acht Uhr morgens und schreckt mich aus meiner Tiefschlafphase hoch. Ich nehme jedenfalls an, dass es eine Tiefschlafphase war, man weiß es ja selbst nicht genau – aber daran sieht man mal, was eine wahre Katastrophe für Spuren hinterlässt; plötzlich wird alles hinterfragt.
„Hallo“, murmele ich.
Irgendwie weiß ich, dass es Tim ist.
„Baby! Du … Sorgen …“ Ich habe Schwierigkeiten, ihm zu folgen, da ich fast wieder einschlafe. „ … Gott sei Dank … habe im Radio gehört … dein Zug … große Sorgen … Warum hast du nicht angerufen?“
Okay, jetzt bin ich wach. Mehr oder minder. Es ist Tim. Als ich vor fünf Stunden meinen Anrufbeantworter abgehört habe, waren alle zehn Nachrichten von ihm. Offensichtlich hat er noch mal in New York angerufen, und Bubbe Hannah hat ihm erzählt, dass ich früher gefahren bin.
Wie hat er die Nummer eigentlich rausgekriegt? Sie steht gar nicht im Telefonbuch.
„Es geht mir gut.“ Es geht mir gut, nur dass ich dich nicht mehr mag. Und ich habe mit Jeremy geschlafen, obwohl ich mir vorstellen kann, dass Andrew der Richtige ist.
„Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Ich komme zu dir.“
„Nein, Tim, bitte nicht.“
„Warum nicht?“
Ist es falsch, mit jemandem am Telefon Schluss zu machen? Hier geht’s nicht anders: „Ich glaube nicht, dass unsere Beziehung Zukunft hat.“
Schweigen. Und dann: „Können wir darüber nicht reden?“
Ich dachte, das hätten wir gerade. „Ich bin wirklich müde, Tim.“
„Was ist mit Silvester? Heißt das, wir unternehmen nichts zusammen?“
„Hm, nein.“
Am anderen Ende der Leitung herrscht erneut Schweigen, und ich bin mir nicht
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