Großstadt-Dschungel
Gott.
Ich spüre, dass ich gleich zu weinen anfange, denn der Bildschirm sieht plötzlich leicht verfärbt aus, als hätte jemand mit einem billigen orangefarbenen Radiergummi darauf herumgekritzelt.
Da hilft es nur, an etwas Schönes zu denken: Wie Julie Andrews tanzt, Ostereier aus leckerer Schokolade, meine 16-jährige Halbschwester Iris, die mich für die coolste Frau auf der ganzen Welt hält.
Okay, hat geklappt. Der Bildschirm sieht schon fast wieder normal aus.
Kommen noch andere schöne Gedanken? Ja, die Art und Weise, wie Jeremy mit seinem Daumen kleine Kreise auf die Innenseite meines Armes gemalt hat.
Mist, Mist, Mist.
Dritter Versuch: Die „1“, die Professor McKleen mir für meinen Essay über Edgar Allan Poe gegeben hat. Der Tag, als meine Spange von meinen Zähnen abmontiert wurde und meine Lippen sich so anfühlten, als ob sie von den Zähnen gleiten würden, und ich den ganzen Tag vor dem Spiegel stand und mich anlächelte.
Okay, mir geht’s wieder gut. Weitergehen, Leute, hier gibt es nichts zu sehen.
Igitt. Ich bemerke, dass unsere Lektoratsassistentin Helen, die in der Nachbarkabine ihren Arbeitsplatz hat, über die Trennwand linst. Sie taucht immer genau in dem Moment auf, in dem ich sie am wenigsten gebrauchen kann. Genauso, wie man todsicher seine Periode am Tag des Abschlussballs, der Poolparty oder am Valentinstag bekommt. Wann immer ich im Internet die neusten Filmsites anschaue oder ein paar Minuten zu spät zu meinem Arbeitsplatz schleiche, steht sie wie aus dem Nichts neben mir. Es ist gespenstisch.
Ihr Haar ist zu einem krausen kleinen Knoten gesteckt, der perfekt sitzt. Ich glaube, sie benutzt Kleber für ihre Frisur.
„Ja?“ frage ich in einem Ton, der ausdrücken soll, dass ich gerade sehr beschäftigt bin.
„Es tut mir Leid, aber würde es dir etwas ausmachen, nicht so laut zu sein?“ flüstert sie und legt den Zeigefinger wie eine mahnende Lehrerin an die Lippen. „Ich habe Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren.“
Ich widerstehe der starken Versuchung zu entgegnen, dass sie mich mal sonst wo lecken kann. An meinem ersten Tag bei Cupid vor zwei Monaten habe ich mir fest vorgenommen, dass ich mich nicht von diesen strebsamen Alleswissern kleinkriegen lasse. An jenem ersten Tag erzählte ich ihr, ich sei auf die Pennsylvania University gegangen, woraufhin sie antwortete, sie würde auch jemanden kennen, der von Harvard zu Penn gewechselt war, weil er den Druck bei Harvard nicht ausgehalten hatte. Helen hatte natürlich ihren Abschluss an der Harvard Uni gemacht.
Und dann gab es aber auch Momente, in denen ich Willens war, ihr eine Chance zu geben. Ich blickte über die Trennwand und sagte: „Helen, Shauna will mit mir und dir sprechen.“
Ohne von ihrer Arbeit aufzublicken, erwiderte sie: „Jacquelyn, es heißt, nun ja, Shauna will mit dir und mir sprechen.“
Aus irgendeinem Grund scheinen die anderen Korrektoren sie aber für Gottes Geschenk an Cupid zu halten. „O Helen“, erklingt der Chor der Bewunderer, „du bist die Königin der Kommata“. Und: „Wie war es auf Harvard, Helen?“ oder: „Erläutere uns doch bitte deine Theorie über den Dekonstruktivismus und die Subjektivität in James Joyces ‚Ulysses‘, Helen!“
Na gut, vielleicht übertreibe ich jetzt ein wenig, aber wer liest schon freiwillig in seiner Mittagspause „Paradise Lost“ von Milton und „Die metaphysische Geschichte der Literaturkritik“?
Ich bin sicher, sie würde mir mit Freuden ihre eigene Theorie über Dekonstruktivismus und Subjektivität erläutern. „In meinem ersten Jahr in Harvard bestand Jim, der sich als Professor einen weltweiten Ruf geschaffen hatte, darauf, dass ich mit ihm zusammen quer durch Amerika fliege, um meine Literaturthese landesweit zu präsentieren …“
Blablabla. Ich habe auch einen Magister in Literatur, beziehungsweise einen halben Magister. Das erste Jahr in dem Zwei-Jahres-Programm habe ich hinter mich gebracht. Was mich mal interessieren würde, ist, warum eine Frau mit einem Abschluss von Harvard überhaupt bei Cupid arbeitet. Sie sollte in irgendeinem angesehenen Verlag sitzen, den tieferen Sinn des Lebens diskutieren und Michael Ondaatje lektorieren – nicht die leidenschaftliche Liebesaffäre zwischen einem gestandenen Cowboy und seiner 25-jährigen jungfräulichen Braut. Wahrscheinlich hat sie einen ganz miesen Abschluss gemacht.
Man sieht, ich lasse mich nicht von Helen kleinkriegen.
„Entschuldige“, sage ich mit todernstem
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