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Großstadt-Dschungel

Großstadt-Dschungel

Titel: Großstadt-Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Mlynowski
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diesem Zug saß.
    „Der Himmel erinnert mich an meinen Kunstkurs“, sagt er.
    „Du besuchst einen Kunstkurs?“ Er besucht einen Kunstkurs? Welcher Mann besucht schon einen Kunstkurs? Kunst und Wirtschaft? Ist das erlaubt? Wird einem das bei der Einschreibung nicht verboten, um den Alpha A-Typ davor zu bewahren, ein Alpha B-Typ zu werden?
    „Ja. Ich bin so eine Art Künstler. Als Kind habe ich immer Zahnbürsten in weiße Farbe getaucht und sie über Lutscherstiele gerieben, um Sterne auf das Papier zu sprenkeln.“ Er setzt sich abrupt auf. „Sag mal, hat der Himmel nicht wirklich was von einem impressionistischen Gemälde?“
    Über dem Zug steigt eine dicke graue Rauchwolke auf und droht das so genannte Gemälde zu verdunkeln. Mit meinem verschwommenen Blick erinnern die Flammen eher an verschmierte, mit roten und orangefarbenen Fingerfarben gemalte Kleckse.
    Könnte ich Andrew mögen?
    Seine Augen wirken heller, wie vom Feuer gebleicht. Er legt sich wieder hin, dieses Mal auf die Seite, gestützt auf seinen Ellbogen. Was mache ich, wenn er sich zu mir rüberbeugt und mich küsst? Lasse ich ihn? Wird es gut sein? Warum will ich denn, dass er mich küsst? Wie kann ich es anstellen, dass er mich küsst? Wird er die Schokolade auf meinen Lippen schmecken? Wird er danach eine Antilaktose-Pille schlucken müssen?
    „Ich nehme an, du wolltest Jeremy sehen.“
    O, stimmt ja. New York. Ich antworte zunächst nicht. „So in der Art“, sage ich ausweichend.
    Kann Andrew mir gefallen? Ich glaube, er gefällt mir. Mag Andrew mich? Ich kann es nicht sagen. Warum muss mir denn immer jemand gefallen? Woher weiß ich, ob ich wirklich Andrew mag oder ob ich ihn nur in diesem Moment wegen den Sternen, dem Feuer, den helleren Augen, dem sauberen Sweatshirt mag?
    Ein vermutlich zuständiger Mann – er trägt einen fluoreszierenden Stab – dirigiert die wartende Menge zu einer Farm in der Nähe, wo Busse stehen, die uns nach Boston bringen sollen. Ich ziehe meine Jacke aus und streife mir umständlich Andrews Sweatshirt über. Dann ziehe ich die Jacke wieder an, lasse aber den Reißverschluss offen. In meiner linsenlosen, etwas verschwommenen Verfassung stelle ich mir diese Geste relativ einladend vor. Wir schleppen uns mühsam über einen Pfad durch den Wald, klettern über tote Baumwurzeln und zerkratzen uns die Schuhe am Geäst. Vielleicht ist es doch ganz gut, dass ich die schwarzen Stiefel nicht anhabe. Ich höre die Teufelin sagen, dass der Weg angeblich für uns freigeräumt worden ist, aber meine Füße sprechen eine andere Sprache. Und ich kann mich auch nicht erinnern, einen Bulldozer gesehen zu haben.
    Andrews bloße Finger sind eiskalt; sie sehen aus, als würden sie sich gleich blau verfärben. Ich ergreife eine seiner Künstlerhände und stecke sie neben meine in den Handschuh. (Ich hätte ihm natürlich das andere Paar gegeben, wenn es nicht in meinem Gepäck wäre.) Als Grund für die Aktion gebe ich vor, dass ich sonst wahrscheinlich bald vom Weg abkommen und in den Wald laufen würde. Was angesichts meiner fehlenden Klarsicht und der Dunkelheit noch nicht mal gelogen ist. So wird wenigstens eine seiner Hände warm. Er könnte sie sicher auch jederzeit in meine Taschen stecken, aber den Vorschlag verkneife ich mir. Unsere Füße bewegen sich im Gleichschritt, nachdem wir erst einen gemeinsamen Rhythmus gefunden haben. Links, rechts, links, rechts, ein Fuß nach dem anderen.
    „Ich komme mir vor wie eine Figur in Akte X“, sagt er.
    Der Bademeister, der zufällig vor uns geht, dreht sich um. „Es heißt, Kinder hätten Feuerwerkskörper auf die Gleise gelegt, die den Brand verursacht haben.“ Warum geben Erwachsene immer Kindern die Schuld? Mein Vater macht das auch. Jedes Mal, wenn er was von Vandalismus hört, flucht er: „Diese verdammten Gören!“ Ich hasse das. Wenn ich erwachsen bin, werde ich nie Kindern die Schuld geben. Ich werde stattdessen fluchen: „Diese verdammten Erwachsenen!“ Ach so, ja, ich
bin
erwachsen.
    Nun dreht sich die Frau neben dem Bademeister nach uns um und meint: „Außerdem heißt es, die Waggons hätten sich so schnell mit Rauch gefüllt, dass die Passagiere die Scheiben einschlagen und durch die kaputten Fenster raus mussten.“
    „Hat sich jemand dabei verletzt?“ fragt Andrew.
    „Gott sei Dank nicht. Ein paar Leute sind ins Krankenhaus gekommen, aber eher vorsorglich.“
    Das macht die Geschichte allerdings weniger aufregend. Mann, was denke ich denn da

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