Großstadt-Dschungel
umfüllte. Er hatte offensichtlich nie begriffen, dass mehr Mäusespeck für ihn weniger für mich bedeutete. Oder wenn ich mit ihm drei Stunden beim Zahnarzt saß, als er eine Füllung brauchte, weil ich weiß, wie sehr er Zahnärzte hasst. („Es macht ihnen Spaß, mich zu quälen“, hat er immer gesagt.) Als wir dann aber Angst vor undichten Kondomen hatten – ein Zeichen für mich, mir die Pille zu holen –, hat er da wohl angeboten, mit mir zum Frauenarzt zu gehen? Nein. Ich musste Wendy darum bitten.
Und wo wir schon bei Jeremys ungeheurem Egoismus angekommen sind, möchte ich doch gern das Boston-Fiasko erwähnen. Man stelle sich vor: Der langjährige Freund schreibt sich in Boston für den Master in Philosophie ein. Er erzählt einem, dass die Stadt tausend Möglichkeiten bietet, tolle Jobs, fantastische Leute, und er fragt einen, ob man mit ihm dorthin gehen würde. Man stimmt zu, allerdings nicht wegen der tollen Jobs, sondern wegen der fantastischen Leute, seinetwegen also.
Du lässt deinen eigenen Master sausen, weil du sowieso schon lange keine Lust mehr auf die akademischen Zusammenhänge hattest, redest du dir ein. Es ist auch in Ordnung, dass du dir zuerst eine eigene Wohnung suchst, weil du weißt, dass er noch nicht „bereit“ ist. Du willigst auch gegen die Warnung deiner Mutter ein, die meint: Eine Frau sollte einem Mann nicht ohne Ring am Finger durch das ganze Land folgen. Du denkst, deine Mutter spinnt, schließlich bist du ja erst dreiundzwanzig und damit noch etwas zu jung zum Heiraten. Du suchst dir also einen Job in der Verlagsbranche, weil du an der Unizeitung mitgearbeitet hast und nicht in der Wissenschaft arbeiten willst und auch nicht unterrichten möchtest und du nicht sicher bist, was man sonst noch mit einem Abschluss in englischer Literatur anfangen könnte.
Cupid bietet dir eine Stelle mit vollen Sozialleistungen und einem zweiwöchigen Intensivkurs in Textredaktion. Du weißt, dass du nicht dein Leben lang Rechtschreibfehler korrigieren willst, aber da das Einzige, was dir im Moment wichtig ist, mit Jer zu tun hat, nimmst du den Job an. Also rufst du deine alte Schulfreundin Natalie an, die dir Sam vorstellt. Du unterschreibst den Untermietvertrag. Und dein Freund sucht immer noch nach einer Wohnung. Und sucht und sucht.
Und als du dann endlich deine Bücher in die Kisten von dem Getränkeladen packst (du hast gerade das 19. Jahrhundert verstaut, weil du deine Literatur immer chronologisch sortierst, nie nach Autoren), da klingelt die so genannte Liebe deines Lebens an der Tür. Wie lieb von ihm, denkst du. Er hat dir das Mittagessen geholt. Und er
hat
dir Mittagessen geholt, Thai-Nudeln und Frühlingsrollen. Aber er hat auch ein Flugticket mitgebracht. Ein Flugticket.
Sein
Flugticket. Sein Flugticket nach Thailand.
Er sagt, er müsse sich finden und er habe den Beginn seiner Prüfungen auf das Wintersemester verschoben. Du fragst dich zuerst, wann er sich verloren hat, aber das sagst du nicht laut. Er streicht mit seiner Hand über deinen Rücken und sagt dir, dass du gut ohne ihn klarkommen wirst und dass es sich ja nur um ein paar Monate handele. Du fängst an zu weinen und fragst ihn, wie er das tun könne, und er sagt, es habe nichts mit dir zu tun. Und das genau ist der Punkt.
Dann machst du einen anderen Vorschlag: Du gehst mit. Schließlich hast du lange keinen Urlaub gemacht und dir eine Auszeit redlich verdient. Du leihst dir Geld. Du lernst sogar, mit Stäbchen zu essen. Aber er sieht dich schon gar nicht mehr an. Er sieht bereits auf den Druck von Francesco Hayex „Der Kuss“ hinter dir. Das in sanftrotes Licht getauchte Bild mit dem Robin Hood gleichen Held passte gut zu deiner Tagesdecke, und damals dachtest du, es heißt etwas, wenn er dir ein so romantisches Poster von einem Mann aussucht, der zärtlich eine Frau küsst.
„Das ist eine Sache, die ich allein machen muss“, sagt er. Du zuckst zusammen. Und plötzlich fängst du erneut an zu weinen, und er küsst deine Wangen. Seine Hände wandern unter dein Shirt, und irgendwie findest du dich im Bett mit ihm wieder, obwohl du denkst, dass du ihn hassen müsstest.
Und später hilfst du ihm, einen Rucksack, Reisekissen und „Auf-geht’s“-Bücher zu besorgen, und du versuchst zu lächeln und ihn zu unterstützen, und er küsst dich, während ihr vor der Kasse steht. Und an dem Abend vor deinem Umzug hilft er dir bei den letzten Handgriffen, bis du dich auf dem Seesack mit deinen Schuhen
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