Großstadt-Dschungel
inzwischen sechs Tage her ist, und er hat schon sieben Mal angerufen. Vier Mal hat er aufgelegt, drei Mal eine Nachricht hinterlassen.
Samstag: „Hey, Schatz.“ (Schatz? Ist das nicht doch etwas zu vertraulich hier?) „Ich bin’s, Jon. Ruf mich an. Ruf mich an.“
Sonntag: „Hallo, Liebes.“ (Liebes? Wie alt bin ich, vierzig?) „Ich bin’s. Wollte nur hören, wie dein Wochenende war. Ruf mal zurück. Ruf mal zurück.“
Dienstag: „Na, verführerische Frau.“ (Verführerische Frau ist gut, aber von ihm?) „Lust, was Nettes zu unternehmen am Wochenende? Melde dich. Melde dich.“
Ich weiß, dass ich ein großes Mädchen sein und ihn zurückrufen sollte, um ihm zu sagen, dass ich kein Interesse habe, aber dann müsste ich mir ja alles doppelt anhören. Vermutlich wird er aber sowieso irgendwann aufgeben, wenn ich ihn nur genug ignoriere. Seine Nachrichten erinnerten mich immer an die Werbung mit der doppelten Mintfrische.
Wenigstens war er nicht im „Orgasm“. Nach E-reeks sechster Eroberungsrunde hätte ich ihm in geistig umnebeltem Zustand womöglich gesagt, dass ich ihn für einen Rohrkrepierer halte. Oder ich wäre mit ihm nach Hause gegangen. Ich spreche natürlich von Jonathan, nicht von E-reek. Obwohl, in meinem Zustand, wer weiß?
Einen ziemlich scharfen Blonden hatte ich im Visier, ganz definitiv ein möglicher Kandidat, zumindest ein Kandidat, der den Versuch wert gewesen wäre. Er trug eine ziemlich New Yorkische Brille mit dunklem Rand und eins von diesen Ski-Sweatshirts, die um den Hals ein beigefarbenes Band haben und immer noch ganz schön sexy sind, obwohl sie den Touch von 1996 haben. Er saß auf einem Barhocker und hat sich mit zwei anderen Typen unterhalten, während ich es ohne große Hoffnung mit meinem telepathischen Sieh-genau-jetzt-zu-mir-rüber-Blick versuchte.
Wie gesagt, ohne große Hoffnung.
Etwa gegen zwei gaben Nat und ich das Spiel für verloren und machten uns auf den Heimweg. Ihr Wagen stand wieder bei mir auf dem Parkplatz, da ich so nah wohne. Auf dem Weg durch die Seitenstraßen plauderten wir lauthals miteinander. Etwa drei Minuten von meiner Wohnung entfernt bemerkte ich einen Typen in Jeans und Jeansjacke etwa einen halben Block hinter uns.
„… Ich weiß, dass E-reek ganz süß ist“, sagte Nat, „aber ich konnte kaum ein Wort von dem, was er gesagt hat, verstehen. Vielleicht, wenn er eine Prinzessin aus mir machen könnte oder wenigsten die Erbin von sonst was, aber …“
Einen Block weiter war der Typ noch immer hinter uns.
„Nat“, flüsterte ich. „Hinter uns ist jemand, der mir wirklich Angst einjagt. Lass uns an der nächsten Ecke die Straßenseite wechseln.“
„Ist es Jon?“
„Nein, der verfolgt einen nur am Telefon, aber nicht in echt. Ich habe keine Ahnung, wer das ist.“
Ich konnte trotz ihres wunderbaren Make-ups erkennen, wie sie blass wurde.
„Okay, lass uns so tun, als müssten wir uns die Schuhe zubinden.“
„Wir haben keine Schnürsenkel“, wisperte sie.
Stimmt, dachte ich, als ich auf meine kniehohen Stiefel starrte. Warum trug ich kein solides Paar Wanderschuhe? Warum nur?
Wir fummelten an den Absätzen unserer Schuhe herum.
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn.
Ich vermutete, dass er bei zehn vorbei sein müsste. Aber nichts da, er überquerte nur die Straße.
„Lass uns so tun, als ob wir da leben würden“, schlug sie vor und deutete auf das nächste Wohnhaus. „Aber ich kann in diesen Dingern nicht rennen.“
Wir liefen, so schnell es unsere Schuhe erlaubten, das Klackern der Absätze hallte laut auf dem Pflaster. Als wir das weiße Hochhaus erreichten, öffnete Natalie die Glastür, und wir schlüpften hinein. Ich kramte mein Handy heraus, zögernd, welche Nummer ich wählen sollte.
„Nun wähl doch schon eine!“ zischte Natalie. Ich drückte eins, zwei, drei, vier, fünf und hoffte, dass sich ein netter Mensch hinter meinem alten E-Mail-Kennwort verbarg.
„Er wird jeden Augenblick reinkommen“, stöhnte Natalie.
Warum klingelt es denn nicht? Bitte klingel!
Und dann lief der Kerl plötzlich an der Tür vorbei, spähte in die Lobby und ging weiter die Straße runter.
„Mann, das war abgefahren“, sagte Nat, als wir beide fassungslos in die einsame schwarze Nacht starrten. Einsam für eine Sekunde jedenfalls. Weil der Scheißkerl nämlich einen Moment später wieder vor uns auftauchte, seine hellblaue Jeans diesmal bis zu den Knien runtergeschoben und das in der Hand
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