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Großstadt-Dschungel

Großstadt-Dschungel

Titel: Großstadt-Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Mlynowski
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der Tasche. Wo ist meine Tasche? Ich muss an meine Tasche.
    Eine Frau aus den hinteren Reihen erhebt sich. „Kann bitte jeder sitzen bleiben?“ brüllt sie.
    Ein Mann in gestreifter Uniform öffnet die Schiebetür zu unserem Wagen und fordert uns auf, den Zug zu verlassen, hinzufügend, dass wir mitnehmen sollen, was wir am Platz haben, und uns über die Gepäckstücke in den Ablagen keine Sorgen machen sollten. Ich habe aber nur meine Handtasche und eine Zeitschrift dabei. Mein ganzes Zeug ist in der Tasche. Und meine schwarzen Stiefel. Ich muss doch meine schwarzen Stiefel retten! Wer bin ich ohne meine schwarzen Stiefel?
    Ich stehe in der Schlange zum Ausgang. Eine Frau, die nach Desinfektionsmittel riecht, unterhält sich mit dem Bademeister, und ich höre ihnen heimlich zu. Ich frage mich, ob sie sich schon vorher kannten oder ob diese Beinahe-Katastrophe sie zusammengeführt hat. Ich werde nie wieder allein verreisen. Ich werde meine Stiefel nie wieder ins Gepäck packen. Reiseregel Nummer eins: Hab, was dir wichtig ist, in meinem Fall alles, stets in Reichweite. Wenn es nicht wichtig ist, warum sollte ich es dann mitnehmen? Reiseregel Nummer zwei: Hab immer ein Paar Laufschuhe dabei; man kann ja nie wissen, ob man nicht mal aus einem brennenden Zug fliehen muss.
    Ich sitze auf einem Schneehaufen, die Arme um meine Beine gelegt. Der erste Waggon des Zuges brennt, und der zweite ist in unmittelbarer Gefahr, ebenfalls in Flammen aufzugehen.
    „Jackie?“ sagt eine Stimme hinter mir. Meint jemand mich? Gab es noch eine Jackie im Zug?
    „Ja?“ rufe ich in die Dunkelheit.
    „Ich kann gar nicht glauben, dass du auch im Zug warst.“
    Andrew! Es ist Andrew! Andrew hat in meinem Zug gesessen. Gott sei Dank. Gott sei Dank! Ich springe von meinem Schneeberg und falle ihm um den Hals. „Mensch, ich freu mich so, das kannst du dir gar nicht vorstellen.“
    Er umarmt mich, und wir setzen uns wieder. „Hast du nicht gesehen, wie ich dir zugewinkt habe? Hast du mit offenen Augen geschlafen?“
    Toll. Er hält mich für bescheuert. „Ich habe mir die Linsen rausgenommen, falls ich einschlafe, und ich hatte noch keine Gelegenheit, sie wieder einzusetzen. Wolltest du nicht eine Woche länger bleiben? Warum fährst du schon zurück?“
    „Zu viel zu tun in Boston.“
    Hm. In die warmen Frauenarme zurückfallen eventuell? „Kannst es nicht abwarten, Jess wieder zu sehen?“
    „Nein, ich habe deinen Rat befolgt und es beendet. Es ging nicht mit uns beiden. Ich meine,
es
ging schon, aber dazu sage ich besser nichts, sonst nennst du mich gleich wieder ein Schwein.“
    Er führt es nicht weiter aus, und ich frage auch nicht.
    Die Leute stehen zu zweit oder zu dritt zusammen, klammern sich an das, was sie gerade greifbar hatten, und schauen auf den brennenden Zug. Wenn wir nur ein bisschen Mäusespeck hätten. Die Frau, die nach Desinfektionsmittel riecht, redet immer noch mit dem Bademeister, und die Teufelin in dem roten Regenmantel spricht mit sich selbst. Die Feuerwehrleute sind unterwegs, höre ich den Bademeister sagen, aber sie brauchen wohl noch eine Weile. Scheint für sie kein Notfall zu sein.
    Macht euch keine Sorgen. Hier fackelt lediglich grad ein Zug mit zwanzig Wagen ab. Aber bloß keine Eile. Ist ja auch nicht so, dass wir irgendwo zwischen Nichts und Niemandsland festsitzen würden, danke schön.
    Ich teile meinen Muffin, den ich an der Union Station gekauft habe, mit Andrew. Er denkt, er ist mit Blaubeeren, bis er näher hinsieht und feststellt, dass er mit Schokolade ist. Ich bin allergisch gegen Laktose, sagt er und gibt ihn mir zurück. Warum reagiert bloß jeder Mensch heutzutage allergisch auf Laktose? Vielleicht sollte ich auch langsam mal allergisch gegen Laktose werden. Das scheint mir die bessere Diät zu sein als die kohlehydratereduzierte. Keine Schokolade, kein Eis … aber kein Käse? Nichts für ungut, ich will doch keine Laktoseallergie bekommen.
    Ich greife in meine Tasche und hole eine Packung saure Drops heraus. „Lass mir ein paar übrig. Es ist meine Lieblingssorte.“
    Der Himmel ist mit Sternen übersät. Wir legen uns mit dem Kopf auf seinen Seesack und schauen ins Firmament. „Mein Kopf tut weh“, sage ich, und ich glaube, er denkt, dass mir der Untergrund zu hart ist, dabei könnte ich wirklich ein Aspirin gebrauchen. Er holt ein Sweatshirt aus seinem Gepäck und rollt es mir zu einem Kissen zusammen. Es riecht nach weich gespültem Laken – was für ein Glück, dass Andrew in

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