Großstadt-Dschungel
dazu getan, eine von denen ohne Spruch mit einem sehr stimmungsvollen Bild von einem Händchen haltenden Paar neben einem riesigen Weihnachtsbaum – offensichtlich vor dem unerquicklichen Zwischenfall erstanden. Geschrieben steht: „Frohe Feiertage wünsche ich einer wunderbaren besten Freundin. Du bist stark, brillant und schön. Jeder, der das nicht auf den ersten Blick merkt, hat deine Gegenwart keine Sekunde verdient.” Ich vermute, der Text kam später dazu. Ich schlucke.
Der Karton ist von Bloomingdale’s, und drinnen sind zwei Paar supertolle graue Handschuhe.
„Die sind genial!” sage ich zu ihr. Sind sie wirklich. „Aber warum gleich zwei Paar?”
„Du musst das zweite Paar sofort in eine absolut sichere Schublade legen. Sie sind für den Fall, dass du das erste verlierst.”
So clever, unsere Wendy. Welche Freundin könnte besser sein als sie? Jemand, der für mich einen Plan B macht.
Anstelle von jemanden, für den ich der Plan B bin.
15. KAPITEL
K omme ich noch mal an? – buchstäblich
Ich lese in der „City Girls“ gerade, wie man seine fünf überzähligen Pfunde von Weihnachten wieder loswird, als mit einem Mal das Licht im Zug erlischt und Funken gegen mein Fenster schlagen. Ein bisschen erinnern sie an die Zündschnur von Knallkörpern, bevor sie losgehen. Dann wird alles dunkel; jemand knipst eine Taschenlampe an, und in dem Halbschatten mache ich die Silhouette der Frau neben mir aus. Sie isst ein Sandwich mit Schinken und Käse. Anstatt es zur Seite zu legen, wie es vermutlich die meisten Menschen unter diesen Umständen getan hätten, isst sie weiter. Was für ein Mensch muss man sein, um weiterzuessen, wenn der Zug in die Luft zu fliegen droht? Angenommen, man hat noch eine Minute zu leben, würde man dann ein Sandwich essen? Ich hingegen entscheide mich fürs Nachdenken. Und zwar nicht über mein Leben, sondern über die Essgewohnheiten der Frau neben mir.
Wir sollten hier besser nicht zu lange stehen. Ich habe sowieso schon viel zu viel Zeit in diesem Zug verbracht, der aus irgendeinem Grund den umständlichsten Weg von New York nach Boston nimmt. Was ist wohl der schnellste Weg, um von A nach B zu kommen? Ganz einfach: Man macht einen Abstecher über C, hält kurz in F und fährt dann noch schnell in U vorbei. Lächerlich.
Ich habe Kopfschmerzen. Ich hätte nicht ohne meine Linsen lesen sollen. Ich habe sie, kurz nachdem ich in den Zug gestiegen bin, rausgenommen, weil ich dachte, ich würde ein Nickerchen machen und die Grübelei über das vermasselte Weihnachten unterbrechen, und ich hasse es, mit den Linsen zu schlafen, denn wenn ich aufwache, sind sie trocken und trübe. Ich sollte mir wirklich die Augen mal lasern lassen, aber das kostet vermutlich mehr, als ich in einem Jahr verdiene. Jedes Mal, wenn ich daran denke, taucht vor mir das Bild einer geschälten Mandarine auf. Ich mag keine Mandarinen, und schon gar nicht, wenn sie mich an Augen erinnern.
Plötzlich fangen die Leute um mich herum an zu flüstern und zu lachen. Noch mehr Taschenlampen werden angeknipst, ich kneife die Augen zusammen und sehe mich um. Eine alte Frau mit einem von Haarspray gestärkten Dutt steht von ihrem Sitz auf. Es zeigt sich, dass sie einen langen roten Regenmantel anhat, und durch meine kontaklinsenfreien Augen wirkt sie wie der Teufel, bereit zum Angriff. In der Reihe hinter ihr erhebt sich ebenfalls ein Mann in einem grau-schwarz melierten Anzug. „Ich bin Bademeister“, verkündet er. „Braucht jemand Hilfe?“
Warum, ertrinkt jemand? Merkwürdig. Zwei Kinder auf der anderen Seite des Ganges scheinen die Bemerkung ebenfalls amüsant zu finden, denn sie fangen an, wie zu einem rituellen Tanz wild mit den Armen zu fuchteln, was mich an etwas erinnert, das mein Dad nostalgisch immer den Schwimmkurs genannt hat.
Rieche ich Rauch? Ich rieche Rauch. Ich werde einen Tag nach Weihnachten in einem Zug verbrennen. Im Alter von vierundzwanzig Jahren. Allein. Ich werde als ein Niemand sterben. Niemand wird sich darum scheren, weil niemand außer Wendy überhaupt weiß, dass ich in diesem Zug sitze, und sie wird es wochenlang auch nicht merken, weil sie nie aus ihrem Büro herauskommt. Meinen Eltern denken jeweils, dass ich woanders bin, und Sam wird annehmen, dass ich doch länger geblieben bin.
Wenn ich jetzt einschlafe, werde ich dann in Boston wieder aufwachen?
Wo ist meine Brille? Ich kann meine Brille nicht finden. Es ist zu dunkel, um die Linsen einzusetzen. Meine Brille ist in
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