Grounded (German Edition)
kamerascheuen Ell mit schwarzen Haaren und mürrischem Gesicht an der Geburtstagstafel; Ell vorm Fernseher mit dem Spiele-Controller in der Hand. Da testete sie gerade das Spiel, das sie von mir zu ihrem dreizehnten Geburtstag bekommen hatte. Sie hatte sich eine komplette Woche kaum aus ihrem Zimmer bewegt und das Spiel in dieser Zeit nahezu komplett durchgespielt. Ihr Geburtstag fiel in die Frühlingsferien, das war ganz praktisch. Am Ende hatte sie mich ebenfalls überzeugt, das Game einmal in Angriff zu nehmen. Es handelte sich um ein Survival-Horror-Spiel mit einer jungen Frau in der Hauptrolle.
Normalerweise langweilten mich diese Pse udo-Horror-Games, bei denen hinter jeder Ecke ein schlecht animierter Zombie oder ein mit übertriebener Vibration angekündigter Geist lauerte. Dieses allerdings machte wirklich Spaß. Es zählte heute noch zu unseren Lieblingsspielen. Wann war das letzte Mal gewesen, dass wir uns damit gemeinsam bei abgedunkelten Fensterläden eine Nacht um die Ohren geschlagen hatten? Es musste mindestens zwei Jahre zurückliegen.
Viel zu lange.
Das nächste Bild zeigte Nathalie, Ell und mich unter dem stark nadelnden Weihnachtsbaum, auf den Dad bestanden hatte. Nicht, dass es ein kleiner Plastikbaum nicht auch vollkommen getan hätte, aber was Weihnachten betraf, ließ er nicht mit sich reden. Ein echter Baum musste her, egal, was für Umstände und welchen Dreck das verursachte. Ell und ich hatten uns alljährlich aufs Neue über diesen grotesken und jedes Mal mit zahllosen Unannehmlichkeiten verbundenen Spleen lustig gemacht. Jetzt im Nachhinein liebte ich Dad für diese schrullige Eigenart. Vielleicht sollte ich die Tradition fortsetzen und an seiner statt von nun an auf klobige, die Wohnung verschmutzende Riesen-Tannenbäume bestehen und mich dafür veralbern lassen.
Es folgte ein Bild von Ell auf Dads Schoß, das war von ihrer Jugendweihe. Hier war zur Abwechslung auch mal wieder unsere Verwandtschaft dabei. Es wurde sich ausgiebig zugeprostet. Meine Schwester wirkte größtenteils peinlich berührt und genervt. Das war die Phase gewesen, in der sie es gehasst hatte, wenn man Fotos von ihr machte. Es musste eine weltuntergangsähnliche Tragödie für sie gewesen sein, an diesem Tag nicht nur in einer Tour fotografiert zu werden, sondern dabei auch noch ein edles Kleid zu tragen. Mit dem Kleid hatte sie sich sehr geniert. Es stand ihr großartig, betonte aber ihren noch relativ neuen Busen. So sehr ihr das Kleid an sich gefiel, so unwohl fühlte sie sich damals darin; das in Kombination mit dem Trara, das um sie veranstaltet wurde, hatte sie dicht an den Rand eines Tobsuchtsanfalls gebracht.
Dann war ich in der Mitte des Albums und bei den letzten Fotos angelangt. Sie zeigten Ell und Nathalie bei ihren geheimen Vorbereitungen zu meinem neunzehnten Geburtstag, dokumentiert von Dad. Die beiden standen um eine opulente Torte herum, die sie umständlich mit einer Sahnetülle verzierten. Ells schwarzer Pullover war mit Mehl und Sahneresten verschmutzt, an ihrer Wange klebten Spuren von geschmolzener Schokolade. Nathalie trug ein Kopftuch zum Schutz ihrer Haare und eine Küchenschürze. Sie und Ell lachten albern über das Chaos.
Müde legte ich das Album beiseite. Ich fühlte mich ausgelaugt, auch wenn ich beim Anblick der Fotos oft gelacht hatte. Das letzte Album hatte mich traurig gemacht. Mum fehlte. Und dennoch zeigten die Bilder in erbarmungsloser Unschuld, dass das Leben weiterging. Weitergehen musste. Auch wenn eine Hauptfigur die Szenerie verlassen hatte, ging das ganze Theater weiter. Neue Figuren betraten die Bildfläche und brutal bildete die Kamera ab, was war. Und was nicht mehr war, stand zwischen den Zeilen, beinahedeutlicher noch als das Sichtbare.
Ich fühlte mich irgendwie verpflichtet, das A lbum weiter zu befüllen. Mit Bildern von mir und Ell. Ohne Dad. Fotos, die bewiesen, dass eine weitere zentrale Figur die Bühne verlassen hatte und nicht mehr wiederkehren würde. Fotos, die zeigten, dass das ganze Drama weiterging, der nächste Akt sich anschloss, dass wir weiterhin existierten. Lebten.
Mein Kopf schmerzte plötzlich stark.
Ich wollte nicht.
Ich wollte keine Bilder machen und ich wollte auch keine in dieses Album hier kleben. Es gab nichts zu kleben. Nichts zu zeigen. Nichts zu dokumentieren. Ell und ich. Erwachsen. Nur wir beide. Es gab nichts festzuhalten. Ich wollte nicht. Ich würde nicht. Die Zeit konnte doch auch einfach stehen bleiben. Nein, natürlich
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