Grounded (German Edition)
schnaufte, ließ die Kohle sinken und drehte sich dann zu mir um, als ich nach zwei Minuten immer noch interessiert bei ihrem Treiben zuschaute. „Du machst mich fertig. Macht’s dir was aus, mich eine Weile zufrieden zu lassen? Ich muss mich konzentrieren.“
„Diva.“
Ich ging zurück in mein Zimmer. Dort legte ich mich aufs Bett und starrte an die Decke, während ich überlegte, ob ich etwas tun sollte, und wenn ja, was. Frühstücken wäre eine gute Idee. Allerdings schien mir die Idee, mich in der Küche zu betätigen und im Anschluss zu essen, vollkommen widernatürlich und wenig reizvoll. Außerdem konnte ich mich nicht dazu motivieren aufzustehen. Ein Gefühl von Leere breitete sich in mir aus und eine endlos lange Zeit verharrte ich in dieser liegenden, vor mich hinstierenden Position, unfähig, mich auch nur zum geringfügigsten Handschlag aufzuraffen.
we don’t claim to be
perfect
but we’re free
Als ich wieder in der Lage war mich zu bewegen, und seit meinem Hinlegen mussten tatsächlich mehrere Stunden vergangen sein, denn Ells Platte lief bereits zum vierten oder fünften Mal von vorne, tat ich das Dümmste und Masochistischste, was ich nur hätte tun können. Einen Augenblick lang zögerte ich vor der Tür.
Dann atmete ich tief ein, drückte die Klinke herunter und ging in Papas Schlafzimmer. Ich bemühte mich um Scheuklappen und sah mich nicht großartig um. Die meiste Zeit hielt ich, so gut es ging, die Luft an, denn ich war mir nicht sicher, ob ich Dads Geruch ertragen konnte. Früher hatte mich die Geruchsmischung aus Desinfektionsmittel, seinem Shampoo und Kaffee immer beruhigt und fasziniert. Heute würde sie möglicherweise dafür sorgen, dass ich zusammenbrach.
Zielstrebig griff ich nach einer bestimmten Schublade in Dads Schrank. Bevor ich den Raum verließ, klappte ich das Fenster ran. Das schlechte Gewissen, das mir die Kehle hochkroch, schmeckte bitter und schleimig.
Schnell floh ich mit den Objekten, nach denen ich gesucht hatte, zurück in mein Zimmer.
Bei Ell schaute ich nicht noch einmal vorbei. Beim Zeichnen driftete sie in eine völlig andere Welt ab und man ließ sie am besten so lange in Ruhe, bis sie aus freien Stücken aus ihrem Fantasieland zurückkehrte.
Tatsächlich war es mir auch lieber, wenn me ine Schwester nichts von dem mitbekam, was ich zu tun beabsichtigte.
Mein Herz begann etwas schneller zu schl agen, als ich mich auf mein Bett setzte und die vier Fotoalben aus Dads Schublade vor mir ausbreitete. Ich ignorierte das mulmige Gefühl im Bauch und gab mir einen Ruck.
Chronologisch vorzugehen wäre das Beste, entschied ich, und griff nach dem leicht abgegriffen wirkenden Ledereinband zu meiner Linken. Es war seltsam, wie ein einziges Bild einen ganzen Flashback-Film im Kopf entstehen lassen konnte, inklusive der zu dem Zeitpunkt herrschenden Temperatur, Lichtverhältnisse, Gerüche. Farben. Selbst die Bilder, auf denen ich nicht zu sehen war, zum Teil, weil ich zur Zeit ihrer Aufnahme noch gar nicht auf der Welt war, lösten erinnerungsähnliche Sequenzen in meiner Vorstellung aus.
Ich schlug die erste Seite auf und blätterte mich langsam durch die Fotos und Jahre.
Mum und Dad in seltsam blass wirkenden Farben (ein Hoch auf die Anfänge der Farbfotografie) und in noch seltsameren Klamotten am See; Mum in einem weiten, gelben Kleid, offensichtlich schwanger; Dad mit mir auf dem Schoß, in dem verzweifelten Versuch, mir irgendeine Pampe zu verabreichen, die bereits überall in meinem Gesicht verschmiert war. Ich musste grinsen.
Ein Bild von mir im Kinderwagen mit albe rnem Mützchen auf, verschlafen in die Kamera blinzelnd; Mum mit mir im Arm, einen Kuss auf meine zarte Kinderwange drückend; ich mit großen Augen unterm Weihnachtsbaum, Dad vor mir im roten Mantel und mit lächerlich-unnatürlich wirkendem Kunstbart. Wie jung Dad gewesen war. Wie viele Jahre lag das zurück?
Beinahe zwanzig. Ich auf dem Töpfchen. Mein Gott, war das wirklich nötig? Was fanden Eltern nur an diesen blamablen Puller-Fotos? Dad, der mich auf seinen Schultern herumtrug; Mum und Dad Arm in Arm, ich an Mums Kleid zupfend und nach Aufmerksamkeit heischend zu den beiden hoch blickend. An diesem Bild blieb ich einige Minuten hängen. Es hatte etwas sehr Entwaffnendes. Ich sehnte mich übermächtig danach, wieder zwei Jahre alt sein und mich vor der Welt in Mums Arme flüchten zu dürfen. Ihre Halsbeuge hatte immer nach einer einmaligen
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