Gruber Geht
wieder, danke. Ist gar nichts. Hab vermutlich was Schlechtes gegessen. Zumindest war es dann so weit wieder besser, dass Gruber sich hatte aufhieven, beschwichtigend in die Runde nicken, sich ankleiden und in die Tiefgarage zu seinem Auto schleppen können. Zuhause hatte er sich dann auf den Rücken gelegt, einen Joint geraucht und gewartet. Aber er war nicht mehr verschwunden, dieser Schmerz, nicht ganz zumindest. Auch wenn Gruber ihn nicht spürte, und er spürte ihn meistens nicht, war ihm klar: Er ist da. Er wartet. Das war kein Hab-nur-kurz-vorbeigeschaut-bin-schon-wieder-weg-Schmerz. Was immer es war, es trieb selbst einen wie Gruber zum Arzt.
Gruber schaltet, er kann selbst kaum glauben, dass er das tut, aber er schaltet tatsächlich den Fernseher aus. Es passiert einfach, wie ohne seinen Willen. Es ist genug jetzt. Er hat gefühlte zweiundzwanzig Folgen «Scrubs» gesehen, circa zwölf hirnamputierte Richterdarsteller, etwa sieben total aus dem Leben gegriffene Hartz- I V -Soaps mit den eintausend grauenerregendsten Tätowierungen Deutschlands sowie sechs Bezahlpornos, einen davon ohne Ton und stattdessen mit Dylan-Soundtrack, was er aber eigentlich nicht empfehlen kann. Er hat sich zwei Flaschen Whisky kommen lassen, drei Flaschen italienischen Weißwein und vier Flaschen Bordeaux, von denen zwei noch da sind. Er hat drei Lines aufgelegt und gezogen. Er hat nicht viel gegessen. (Er hat den Schmerz fünfmal sich regen gefühlt und fünfmal mit fünf Pillen und drei Joints wieder ins Koma befördert.) Er hat sich zweimal ins Klo und einmal ins Waschbecken übergeben. Er hat vier-, nein, dreimal masturbiert. Er hat nullmal das Telefon abgehoben, null Menschen angerufen, null Nachrichten abgehört und null SM S gelesen oder beantwortet, auch nicht die von Philipp, Carmen und seiner Mutter. Er hat einen Brief immer wieder angestarrt und null Briefe aufgemacht. Er hat dreizehn Stunden am Stück geschlafen. Er ist wach jetzt. Und es ist genug.
Gruber bleibt ein paar Minuten einfach liegen, den Kopf gegen die Wand gelehnt. Er starrt den nun schwarzen Bildschirm an, die offene Schrankwand in seinem Zimmer, das Handy, das sich jetzt schon länger nicht bewegt hat, und die Decke über sich. Es ist still, dann fährt unten ein Auto auf den Parkplatz und eine Tür schlägt zu. Noch eine. Gruber greift nach seinem Schwanz und hält ihn ein bisschen in der Hand, zieht die Hand dann wieder hoch und lässt sie auf seinem Bauch liegen. Alles ruhig da drin. Schließlich, nach zwei oder drei weiteren reglosen Minuten, schwingt er seine Beine aus dem Bett. Er setzt sich auf und bleibt so sitzen. Und betrachtet noch einmal die Schrankwand, seinen Anzug und sein Hemd darin, und seinen Koffer darunter. Dann steht er auf, duscht sich sorgfältig und zieht sich langsam an.
Gruber geht jetzt hinaus.
Das Auge sieht viel besser aus. Na ja, jedenfalls nicht mehr ganz so schlimm, Gruber mustert sein Gesicht in den verspiegelten Blenden an den Kaffeehauswänden und setzt sich trotzdem so, dass er die Spiegel im Rücken hat. Ganz gruberunüblich, normalerweise sieht sich Gruber ganz gerne selbst, wenn es die Situation erlaubt, ohne den Verdacht von Eitelkeit auf ihn zu lenken. Der lastet sowieso schon schwer genug auf Gruber, aber er legt nun einmal Wert auf gute Kleidung und er hat nun einmal gern gute Haare, und er ist nun mal, im Gegensatz zu anderen Männern seines Alters, mit kräftigem Haarwuchs gesegnet, danke, Schicksal. Im Moment ist er, Haare hin oder her, leider nicht sehr attraktiv, das muss sich Gruber ehrlicherweise eingestehen. Dafür ist die Kellnerin hübsch, blond und auf eine gute Art rund, aber natürlich versteht er sie nicht und sie versteht ihn nicht, als er eine Melange bestellt, ach Gott, ja, einen Cappuccino bitte. Und zwei Croissants, jaja, Gipfeli, genau. Er hätte insgeheim lieber einen Caffè Latte, aber da steht sein Stolz vor. Caffè Latte ist was für Mädchen, wie der, der da zum Beweis auf dem Nebentisch steht. Ein großes Glas mit hellgraubrauner Flüssigkeit unter Schaum, dahinter das vorschriftsmäßig dazugehörige Mädchen. Es schaut, als Grubers Blick ihr Gesicht erwandert hat, von seiner Zeitung auf und grinst ihn an: Es ist kein Mädchen, es ist eine Frau, und er kennt die Frau, es ist, es ist, es ist, Moment, ach ja, es ist die Frau aus dem Flugzeug, die Frau mit dem großen Mund, die Frau ohne Zeitungen, und sie hat ihn offenbar längst bemerkt. Und wiedererkannt, trotz seiner verunstalteten
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