Gruber Geht
Visage. Und vermutlich seine eitle Selbstbeschau beobachtet. Gruber fühlt sich ertappt und ist sich schwer unsicher, ob er nicht gerade rot anläuft. Er lächelt verlegen, denn er vermutet, dass er das tut.
Sie sagt «Hallo» und «Tut das weh?»
«Weniger als gestern», sagt Gruber. «Und sehr viel weniger als vorgestern.»
Die Frau deutet auf ein paar großformatige Tageszeitungen in Drahtbügeln, die neben ihr auf der Bank liegen.
«Diesmal kann ich Ihnen was anbieten. Brauchen Sie eine?»
«Ist die
FAZ
dabei?», fragt Gruber, und die Frau nickt und beugt sich zur Seite, raschelt ein wenig herum und reicht ihm dann die
FAZ
.
«Danke», sagt er, «John Gruber übrigens.»
«Sarah Vogel, sehr erfreut», sagt die Frau. «Wie ist das passiert, das mit dem Auge?»
Gruber schaut sie an. Sie hat diesen großen, rotgemalten Mund. Und diese Haare wie trockenes Heu. Und diese Schatten unter den Augen. Sie sieht so aus, als könnte sie einiges vertragen. «Ich hab eine junge Maid im Mascotte angebaggert. Es hing aber ein Gorilla an ihr dran. Ein relativ reizbarer Gorilla.» Die Frau, Sarah, grinst. Die Kellnerin bringt den Cappuccino und die Croissants. Gruber beißt sofort in eines hinein, nein, er reißt es, er ist halb verhungert. «Entschuldigung.»
Die Frau grinst. Das Grinsen gefällt Gruber. Plus sie heißt wie Dylans erste Frau. Vielleicht ist das ein gutes Zeichen. Vielleicht ist die Nachricht in dem zerknitterten Brief in seinem Hotelzimmer doch nicht schlecht, wenn diese Frau wie Dylans erste Frau heißt. «Und die Tussi hat mir nicht einmal gefallen», sagt Gruber mit halbvollem Mund, «sie sah echt ungut aus. Wie hundert Jahre Solarium.» Er schluckt den Rest des Croissants, es ist schon der zweite, hinunter. «Und sie war brunzdumm.»
Ja, schau, sie lacht. Gruber ist also doch noch in der Lage, Frauen richtig einzuschätzen, also jedenfalls manche. Die hier hat, wie Gruber gleich dachte, Humor und kann mit sowas wie Wiener Schmäh umgehen, was in dieser Zwingli-Gegend so häufig vorkommt wie eine Marienerscheinung. Nein, Marienerscheinungen gibt es hier wesentlich mehr als Menschen, die einen Schmäh kapieren.
«Klingt nach Tötung auf Verlangen», sagt die Frau jetzt, und Gruber kann es schwer glauben, dass sie das wirklich sagt.
«Kennen Sie meine Schwester?»
«Nein», sagt die Frau, «kaum. Warum?»
«Weil die genau sowas auch sagen würde.» Ihr Grinsen jetzt gefällt ihm gut. Und sie hat einen netten bayrischen Akzent.
«Warum müssen Sie in dem scheiß Zürich sein? Oder leben Sie hier?»
«Nein», sagt Sarah, «Arbeit.» Sie trägt ein ziemlich luftiges graues Top mit so Rüschenzeugs dran. Und Jeans. Und, soweit er das erkennen kann, Stiefel, etwas Braunes, Hohes jedenfalls.
«Was für Arbeit?»
« D J -Arbeit. Ich habe vorgestern auf einer Architekten-Party aufgelegt. Und heute lege ich im Mascotte auf. Kennen Sie ja. Sind Sie heute Abend noch da? Sie könnten kommen. So ab elf, zwölf. Ich habe ein paar Platten dabei, zu denen man sich fantastisch prügeln kann.» Gruber fängt an, dieses Grinsen wirklich zu mögen. Sehr zu mögen. Er spürt, dass er süchtig werden könnte danach. Und dieses kehlige, gluckernde Lachen jetzt wieder, das gefällt ihm auch, außerdem übertönt es auf ungeheuer vorteilhafte Weise diese kriminelle Classic-Meets-Pop-Scheiße, mit der dieser Laden hier beschallt wird.
«Oh, ausgezeichnet», sagt Gruber, und dass er darüber nachdenkt. Aber er hat schon darüber nachgedacht. Tatsächlich hat er schon über einiges mehr nachgedacht.
«Es ist fast fünf», sagt er, während er auf die Uhr schaut, «ich finde, ein Glas Wein wäre jetzt allmählich angemessen. Darf ich Sie auf ein Glas Wein einladen?»
Sie beugt sich vor und linst auf ihr iPhone, das vor ihr auf dem Tisch liegt.
«Vierzehn Uhr vierunddreißig», sagt sie. Dieses Grinsen. Kolossal.
«Ich sagte ja,
fast
fünf. Oder vielleicht lieber Bier. Den Wein hier kann man ja nicht saufen. In dieser ganzen furchtbaren Stadt kann man keinen Wein trinken. Dieser grauenhafte, picksüße Chardonnay überall.»
Sie grinst schon wieder. Gut, sehr gut. «Ein kleines Bier vielleicht. Ein ganz kleines.»
«Oder warten Sie.» Gruber hat heute keine Lust auf halbe Sachen. Möglicherweise hat er nie wieder Lust auf halbe Sachen, vielleicht ist die Zeit der halben Sachen für immer vorbei. «Wir könnten woanders hingehen.» Die Frau schaut ihn ein wenig überrumpelt an. Aber nicht zurückweisend. Sie denkt
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