Gruber Geht
zu Kindern keine Beziehung, jetzt mal abgesehen zu denen von Kathi, ein bisschen zumindest, die sind ganz nett, die drei, Pius, der Kleine, und Eugen, der Größere, und das Mädchen heißt, heißt, wartmal, ach egal. Zu dem Kind seines Bruders, Ben, hat er eigentlich schon keine Beziehung mehr. Und er hat noch nie, noch niemals den Wunsch nach einem eigenen Kind verspürt, im Gegenteil. Die Beziehung zu Lydia war ja eigentlich genau daran kaputtgegangen, dass Lydia nach vier Jahren lebensfrohem und durchaus ausgefülltem Double-Income-No-Kids-Dasein mit lustig Halligalli auf einmal unbedingt ein Kind gewollt hatte, ständig von Kindern anfing und von ihrer biologischen Uhr, und wie sehr ein Kind ihr Leben bereichern würde, ein Kind!, ein Kind!, und schließlich ging sie Gruber wegen dem Kind sehr viel mehr auf die Nerven, als er sie liebte. Es gab viel Streit über Grubers fehlendes Commitment. Und über Grubers Bindungsängste. Und über seine Weigerung, sich einzulassen und Verantwortung zu übernehmen. Schließlich fasste Lydia den Entschluss: Wenn Gruber kein Kind mit ihr wolle, dann werde sie sich eben einen anderen suchen. Da wünschte Gruber ihr viel Glück auf dem weiteren Lebensweg und unternahm nichts, um sie aufzuhalten. Sie zog aus, und es war eine Zeitlang ein wenig einsam und unbequem ohne sie, Gruber fühlte sich etwas verloren und konnte nichts mehr finden in der Wohnung, aber er versuchte nicht, sie zurückzuholen. Er hörte von gemeinsamen Freunden, überwiegend weiblichen, immer wieder, wie sehr Lydia unter der Trennung leide, und auch darunter, dass er nichts unternahm, um es noch mal zu versuchen, und das tat ihm auch irgendwie leid, aber tja. Dann hieß es endlich, dass Lydia nun einen neuen Freund habe, und als sie schwanger wurde, rief sie ihn sogar selbst an, um die freudige Nachricht persönlich zu überbringen und ihm, im Gleißen ihres gewaltigen Glücks, großmütig zu vergeben, was Gruber gleichgültiger nicht hätte sein können. Mittlerweile hat sie, das hatte Gruber erfahren, schon zwei Kinder mit diesem irrsinnig schwul wirkenden Banker, dem Gruber im Zuge einer unangenehmen Zufallsbegegnung in einem Einrichtungshaus einmal vorgestellt worden war – Lächeln, Lächeln, Shakehands, Lächeln, gut, danke und euch?, Lächeln, tschüss, zum Kotzen – und dem Gruber bis heute für die freundliche Übernahme Lydias und ihres Kinderwunsches unsäglich dankbar ist.
Und jetzt sieht Gruber diesen Vater und seinen Sohn und sieht, wie sie reden, wie der Vater sich zum Sohn beugt und lächelt, und der Sohn lächelt, bevor er sich wieder auf seinen Nintendo konzentriert, zurück, und auf einmal denkt Gruber, dass er vielleicht nie mit jemandem so reden wird. Also, mit einem Sohn. Dass er vielleicht nie mit einem Sohn sprechen wird. Und dass ihn vielleicht nie sein Sohn anlächeln wird. Weil er vielleicht keine Chance mehr hat, einen Sohn zu bekommen und aufwachsen zu sehen, weil ihm diese Chance, egal ob er sie nützen wollen würde oder nicht, vielleicht einfach genommen ist. Es ist nicht mehr eine Frage von Grubers Willen, es ist jetzt möglicherweise eine Frage von Grubers Endlichkeit, dass er keinen Sohn, kein Kind haben wird, und da spürt Gruber wieder einen Schmerz in seinen Eingeweiden, aber es ist ein neuer Schmerz.
Dieses Lindgrün gibt es wahrscheinlich nur in Krankenhäusern. Dieses kaum sichtbare, gerade noch spürbar grüne Lindgrün, das kommt draußen in der Welt vermutlich gar nicht vor. Dieses Grün ist ausschließlich für das Innere medizinischer Anstalten vorgesehen. Gruber stößt sich an einem der Gummiräder, die in Schenkelhöhe waagrecht aus dem mit lindgrünen Leintüchern bedeckten Bett wachsen, in das sich Gruber gleich legen wird. Um die Bedeutung dieser Gummiräder zu kapieren, musste Gruber erst beobachten, wie eine Schwester eines dieser Betten in einen Lift manövrierte. Im Zimmer gibt es ein Tischchen, zwei Stühle, drei Betten und eine unglaubliche Aussicht: Wien liegt Gruber zu Füßen wie eine erschöpfte Geliebte. Zwischen den Kirchtürmen steigt ein heißes Frühlingsflimmern auf, das Gruber im klimatisierten Zimmer nur sehen, aber nicht fühlen kann. Das Bett in der Mitte und das am Fenster sind noch frei, in dem an der Tür liegt ein älterer Mann mit grauem Gesicht, seine Frau sitzt auf einem der Stühle am Bett. Gruber grüßt, in ihren Gesichtern und Blicken ist langes, stabiles Unglück tief und unwiderruflich eingegraben.
Gruber schlüpft aus
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