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Gruber Geht

Gruber Geht

Titel: Gruber Geht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Knecht
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wollte das nicht sehen, wollte sich nicht sehen als einer, der krank ist.
    Aber ... das klingt jetzt blöd, und ich hab’s ja nicht sehr mit diesem esoterischen Vorbestimmungspipapo ... aber ein bisschen denk ich doch: Vielleicht haben wir uns ja genau deshalb getroffen. Damit ich mit dem Finger darauf zeige. Vielleicht sollte ich die sein, die ihn mit der Wahrheit konfrontiert. Vielleicht hat er genau auf mich und auf diesen Tag und diese Stunde gewartet. Vielleicht hätte er den Brief niemals aufgemacht, wenn ich nicht da gewesen wäre. Vielleicht hätte er den Brief im Suff weggeschmissen und wäre dann zwei Monate später tot. Vielleicht habe ich ihm ja das Leben gerettet. Und ich finde es, weil mir der gefällt und weil ich das Gefühl habe, dass da etwas schwingt zwischen uns, halt gerade extrem beschissen, extrem unfair, dass ich den ausgerechnet in so einem Moment kennenlerne, und unter den Umständen. Und jetzt denk ich mir, sogar wenn der wieder gesund wird, dann will er doch ganz gewiss nicht ständig an diesen furchtbaren Tag erinnert werden, als ihm die Krankheit definitiv klar wurde, also an den schrecklichen Tag mit mir. Den Tag, an dem diese Frau mit dem Finger auf seine Sterblichkeit gezeigt hat ... Das kennt man ja aus der Psychologie, dass Menschen oft genau die Menschen scheuen, die ihnen in der größten Not geholfen haben. Weil sie an diese Not nicht erinnert werden wollen, weil sie die Momente der Niederlage verdrängen wollen, verdrängen sie auch diejenigen, die davon wussten und die sie gesehen haben, in diesem schwachen, unglücklichen Moment. Das wollte er wohl verhindern, als er mich zum zweiten Mal gevögelt hat, dass ich ihn als schwach und unglücklich in Erinnerung behalte. Oder besser, er sich selbst. Lieber entschlossen und zupackend. Lieber brutal als luschig, so irgendwie. Aber dem bin ich jetzt wahrscheinlich erst einmal ganz, ganz negativ in Erinnerung. Und dass er vielleicht wegen meines beherzten, vielleicht vorbestimmten kleinen Eingreifens wieder gesund wird und am Leben bleibt, falls er am Leben bleibt, das sieht er vermutlich nicht. Ist ja auch logisch. Der hat jetzt andere Probleme als irgendeine Tusse, mit der er gevögelt hat.
    Danach ging dann irgendwie nichts mehr mit ihm. Er war wie abgeschaltet. Er lag einfach da und starrte vor sich hin und ich hab gespürt, der muss jetzt allein sein. Der ist jetzt allein. Dem kann man jetzt nicht helfen. Er sagte überhaupt nichts mehr und sah mich nicht an. Ich habe mein Gewand zusammengesucht und mich angezogen und mein Zeug eingepackt und meine Jacke genommen. Ich habe ihm noch einen Flyer vom Mascotte auf den Nachttisch gelegt, neben den Brief, aber ich glaube, er hat es gar nicht bemerkt. Ich bin zu ihm hin und hab ihm einen Kuss gegeben, auf den Mund, er hat kaum reagiert. Ich sagte tschüss, und er sah mich kurz an und sagte, ciao, danke, ciao, see you, irgendsowas, und dann ging ich. Vielleicht hätte ich bei ihm bleiben sollen. Aber ich glaube nicht.

Für den Flug zurück nach Wien hat Gruber, wie immer, einen Gangplatz gebucht. Nur, falls er mal aufs Klo muss. Er muss nie während eines Fluges aufs Klo, aber falls er einmal aufs Klo müsste, möchte er das gerne können, ohne vorher irgendeinen wildfremden Mitreisenden anschleimen und mit einem falschen, bedauernden Grinsen dazu bewegen zu müssen, sich abzuschnallen und umständlich aus dem Sitz zu hieven und, bei Grubers Rückkehr, das Prozedere noch mal durchzuführen, wodurch Gruber für den Rest des Fluges in der Schuld seines Sitznachbars stehen würde. Was diesen ja eventuell dazu verleiten könnte, Sprechkontakt zu Gruber aufzunehmen. Darauf kann Gruber unglaublich gut verzichten, danke, recht herzlichen Dank, weshalb der Gangplatz fix auf seiner Frequentflyer-Card gespeichert ist. Gang, immer.
    Eine Reihe vor Gruber und schräg über dem Gang sitzt ein Mann, Mitte vierzig oder so, mit einem Kind. Sein Sohn wahrscheinlich. Der Sohn ist vielleicht, Gruber kann ihn nur von der Seite sehen, zwölf, dreizehn, vierzehn. Oder erst elf, Gruber kennt sich da nicht so aus. Der Junge drückt konzentriert auf einem Nintendo herum, der Vater liest Zeitung, und als der Kaffee und das Sandwich serviert werden, unterhalten sie sich kurz. Über nichts Besonderes, gar nicht auffällig, Gruber kann nicht hören, was sie reden. Sie reden einfach miteinander, und aus irgendeinem Grund muss Gruber ständig hinüberlinsen. Kinder sind Gruber ja grundsätzlich eher egal, er hat

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