Gruber Geht
aber wo wollte er sonst hin? Nein, nicht ins Fabio’s, sicher nicht, und nicht zu Kathi, Mutter oder zur Herzog, und Philipp war jetzt in der Arbeit. Also doch heim. Gruber hatte im Taxi gesessen und belämmert auf die vorbeiziehende und zwischendurch stehende Welt gestarrt, ohne dass etwas von dem da draußen in ihm hängen geblieben wäre, es war einfach durch ihn hindurchgegangen, hindurchgerauscht wie durch einen Unsichtbaren und kurz, bevor Gruber zerflossen war, sich auflöste, implodierte, ganz kurz bevor Gruber eingesaugt wurde von dem brummenden, schwirrenden, brausenden Nichts, das sich in ihm ausbreitete, hatte er gepackt, was noch vorhanden war von ihm und sich hoch und heraus gerissen. Und war ganz klar gewesen und hatte wieder Gefühle gehabt, zwei, drei, vier, mehr, und dann hatte er damit begonnen, ganz sachlich, diese Gefühle zu sortieren und zu ordnen, und sie zu benennen, denn nur mit etwas, das einen Namen hatte, konnte man auch verhandeln. Gruber wusste jetzt auch nicht mehr, woher er so einen Scheiß hatte, sehr wahrscheinlich von Kathi, die ihn wohl bei irgendeiner Gelegenheit aus ihrem nie versiegenden Schatz von halbgemerkten und viertelverstandenen Buddhismen und Diskont-Ratgeberliteraturweisheiten gewühlt hatte. Wenn es zu dir gehört, kehrt es zu dir zurück, wenn es nicht zu dir zurückkehrt, hat es nie zu dir gehört, derlei trottelweises Tralala. Gruber verabscheute, hasste es, wenn Kathi ihm diese traurigen Plattitüden einlöffelte wie einem depperten Kind, er fand, dass sie für derartigen Unsinn also bitte wirklich zu gescheit sei, oder möglicherweise doch nicht, weil sonst würde ihr das ja wohl selber auffallen, was für einen Mist sie da von sich gebe. Machen dich die Kinder so blöd, hast du zu lange gestillt, oder ist es die ständige Spießerpräsenz, die deinen Verstand zum Verrotten gebracht hat? Oder sind Bobos grundsätzlich einfach blöder? Kathiiiii? Merkwürdigerweise und zu Grubers allergrößtem Unbehagen blieben manche dieser Dummheiten aber dennoch in ihm hängen, diese hier schien nun ihren Zeitpunkt gespürt zu haben und war jetzt unvermutet in Gruber hochgeploppt. Gib deinen Gefühlen einen Namen, denn nur mit etwas, das einen Namen hat, kannst du auch verhandeln und fertig werden. Himmel, was für ein Dreck. Aber bitte, trotzdem. Gruber hatte Angst in sich gefunden, und Panik, eh klar. Da war Verunsicherung, völlige Verunsicherung. Da war Verständnislosigkeit. Und er war, wie Gruber etwas überrascht konstatiert hatte, beleidigt, richtiggehend stinkbeleidigt, dass ausgerechnet er getroffen worden war von diesem Scheiß, wie kam bitte er dazu? Und dann hatte Gruber da noch ein Gefühl gefunden, das ihn nun vollends verblüffte: Hunger nämlich, elementaren, bohrenden, ganz realen Hunger. Direkt unterhalb der Stelle, wo sein Tod lauerte. Sowas. Dass es das gibt. Gruber hatte den Taxler zwei Ecken vor seinem Wohnhaus halten lassen, hatte gezahlt, war ausgestiegen und ein paar Schritte gelaufen, hatte die Tür vom Café Drechsler aufgestemmt, den Ober mit einem beiläufigen Winken begrüßt und sich an einen Ecktisch auf die Bank gesetzt. Er hatte ein riesiges Schnitzel mit Braterdäpfeln und grünem Salat bestellt und gegessen und er hatte gehirnt, er hatte drei große Bier bestellt, getrunken und gehirnt, er hatte drei doppelte Birnenschnäpse bestellt, gekippt und jaja gesagt, als der Ober, der ihn kannte, aber nicht
so
, gefragt hatte, ob alles in Ordnung sei mit ihm, jaja, alles sei bestens, und dann hatte Gruber die Rechnung verlangt, bezahlt, war heimgegangen, hatte «Blood on the Tracks» eingelegt und auf repeat gestellt, hatte sich drei Flaschen Rotwein geschnappt und sich auf sein Bett gelegt und so lange Wein getrunken, bis er einfach nicht mehr da war.
«I’m sorry», sagt Gruber und wundert sich, aber er hat es eben gesagt: I’m sorry, nicht laut, aber deutlich, in den Hinterkopf des Kerls hinein. Des schwulen Kerls. Der Schwule wartet am Desk auf einen, dem er den Spindschlüssel zurückgeben könnte, rührt sich nicht, dreht sich nicht um, aber etwas in seiner Nacken-Muskulatur bewegt, verändert, versteift sich, Gruber sieht es deutlich.
«I’m sorry», flüstert, zischt Gruber noch einmal, denn obwohl er eigentlich bereits bereut, dass er das gesagt hat, lässt er sich so eine Abwendung, so ein Ignoriertwerden einfach schon aus Prinzip nicht gefallen, sowas macht man mit ihm nicht, macht keiner. Wahrscheinlich ist er heute einfach
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