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Gruber Geht

Gruber Geht

Titel: Gruber Geht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Knecht
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aussuchen, und Henry scherzt mit dem Barmann und fragt, was Gruber trinkt, und Henry bestellt die Drinks. Und Henry bestellt weitere Drinks: Dry Martini für sich, Wodka-Gimlet für Gruber. Und Henry lächelt. Und redet, freundliche Oberflächlichkeiten, nichts Wichtiges, nichts Ernstes. Und deutet hinter seine Schulter, als Gruber nach dem W C fragt. Und als er dort allein ist, passiert es doch: ein wieder gefasster Gruber begreift die völlige Abartigkeit, ja innerhalb von John Grubers üblichem Koordinatensystem radikale Widernatürlichkeit des gesamten hier ablaufenden und sich anbahnenden Vorgangs, er begreift die existenzielle Dramatik dessen, was hier eben passiert. Und er lässt es geschehen. Er will es geschehen lassen. Er hat eine elementare Sicherheit verloren, er kann es sich leisten, auch eine andere zu verlieren, ja, es erscheint ihm folgerichtig, auch noch andere zu verlieren. Aufzugeben. Er will, er muss es sich leisten. Es ist ihm im Moment auch zu anstrengend, es nicht zu tun. Und dazu Henry. Er fühlt sich wohl mit Henry. Richtig wohl. Von allen Gesellschaften, die am Abend eines Scheißscheißscheißtages wie dem hier möglich sind, ist ihm Henry – den er nicht mal kennt, den er eben noch für den letzten Idioten hielt –, die liebste. Und irgendwie gerade die richtigste, Gruber kann nicht genau erklären, warum er das findet. Aber Logik war gestern. Unlogik ist die neue Logik. Es ist nun einmal anders jetzt. Es ist nun nicht mehr so, dass Dinge in Grubers Dasein vielleicht passieren oder halt nicht, dass sie vielleicht irgendwann später möglicherweise passieren oder, weil man dann einfach schon zu alt und zu faul dafür ist, halt nicht. Gruber wird, so wie es nach der heutigen Diagnose aussieht, eher nicht zu alt dafür. Es ist nicht mehr so, dass wenn nicht jetzt, dann vielleicht irgendwann oder später. Wenn die Dinge, was immer für Dinge, jetzt nicht schlagartig passieren, ist «oder eben nicht» die realistischere, die realistischste Variante. Die einzige; so wie es augenblicklich aussieht. Diese Gelassenheit, diese Zeit, diese schön verschwommene, undefinierte, mit Verheißungen und Möglichkeiten (Sarah erscheint ihm, sie trägt ein steifes, anliegendes, rotes Kleid, das ihre Brüste größer wirken lässt, so ein Joan-Holloway-Kleid, und sie grinst nicht, sie lächelt milde, voll ehrlichen Mitleids) vollgepackte Zukunft, die hat Gruber nicht mehr. Gruber hat möglicherweise nur noch eine Gegenwart. Es passiert jetzt auf der Stelle oder nie. Er erlebt es jetzt oder nimmermehr. Er tut es jetzt, oder die Chance ist endgültig dahin. Es ist, denkt Gruber, während er in einem mit Bisazza-Mosaik-Fliesen in Blau- und Grüntönen ausgelegten Pissoir seinen Penis abschüttelt, anders, als wenn man mit achtzig oder neunzig auf sein Leben zurückblickt und sagt, na die Möglichkeit hätte es auch einmal gegeben, und dann noch einmal und noch einmal, aber ich bin vor lauter anderen lustigen Dingen einfach nicht dazu gekommen, schade, aber egal, mein Leben war auch so tüchtig voll, Kinder, Schwiegerkinder, Stiefkinder, erste Frau, zweite Frau, die Geliebten eins bis fünf, Enkelschar, Segelboot, SU V , Immobilien, kleines Jagdrevier, alles da. Und tatsächlich ist es eigentlich absolut gewiss, dass so etwas wie heute in seinem früheren Leben, wenn sein Leben wie früher geblieben wäre, nie geschehen wäre, weil dieses Leben eben abgrund- und endlos gewesen wäre oder sich zumindest so angefühlt hätte, bis in eine Lebensphase hinein, in der sich Dinge von selbst erledigt hätten und geheime Wünsche und merkwürdige Ideen durch vernünftige, erreichbare Tatsachen ersetzt worden wären. Aber jetzt sieht Gruber den Abgrund, und nur den Abgrund. Der Abgrund klafft vor ihm, und er ist bodenlos. Noch ein Stück entfernt, aber er ist da. Und Gruber sieht, dass er, wenn er nun schon einmal gezwungen ist, darauf zuzugehen, wenn es keine andere Richtung gibt für ihn, auf dem Weg dorthin nicht nur Blümlein pflücken und Vöglein zwitschern hören will. Und weil er sich für alles andere zu schwach fühlt und zu angeschlagen, und weil er jetzt ein Mensch ist, der wegen eines Lächelns weinen muss, mitten in der Lobby eines exklusiven Fitnesstempels, lässt er es geschehen. Er lässt es geschehen, dass Henry ihn anlächelt. Er lässt es geschehen, dass Henry ihn ansieht, und wie er ihn ansieht. Er lässt es geschehen, dass Henry ihm Drinks bestellt und ihn interessiert ausfragt. Er lässt

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