Gruber Geht
Ultraschalle und Gewebeentnahmen nicht weniger, und auch nicht von der freundlichen, besorgten Anteilnahme der Krankenschwestern und Ordinationshilfen und der kühlen, gelassenen Professionalität der Ärzte. Die ganze Zeit wünschte Gruber, es würde ihm einmal einer deppert kommen, ganz normal deppert, wie sonst immer irgendeiner ganz normal deppert kommt, aber alle waren nur nett und zuvorkommend, und je freundlicher, desto mehr wollte Gruber vor Angst zerbersten. Der Ultraschall hatte dem Schmerz in seinem Magen eine Form gegeben, ein Bild von ihm gemacht: Es war ein Tumor, dessen Größe ziemlich genau zwischen Tennisball und Frauenfaust lag, die Gewebeprobe hatte bestätigt: malignes, also bösartiges Non-Hodgkin-Lymphom, richtiger, ernsthaft Krebs also, aber einigermaßen gute Heilungschancen. Wie gut. Im Schnitt fünfzig bis sechzig Prozent. Das soll gut sein? Der Arzt, ab jetzt sein Arzt, hatte gesagt, bei ihm sei es vermutlich höher, er würde meinen über siebzig Prozent, weil er zum Glück frühzeitig entdeckt wäre und die Behandlung so noch rechtzeitig begonnen werde könne, bevor sich Metastasen bildeten. Metastasen. Er, Gruber, hatte jetzt mit Metastasen zu tun. Aha. Keine Operation, nein, sondern Chemotherapie und Bestrahlung. Gruber hatte sich dabei ertappt, dass er sich beim Aufprall des Wortes Chemotherapie, ganz Gruber, sofort gedacht hatte: meine Haare. Und dann aber gleich, ertappt und schuldbewusst über seine Oberflächlichkeit, selbst wenn es um etwas so Elementares wie seine schiere Existenz ging: mein Leben, scheiße, mein Leben. Mein. Leben. Vielleicht, hatte Gruber – mehr um sich von seiner eigenen Ertapptheit abzulenken – gedacht, vielleicht bin ich der zehn-zwanzig-Prozent-Typ, der es nicht schafft, obwohl etwas nicht zu schaffen ein völlig Gruber-fremder Zug war. Trotzdem, er hatte sich dann ganz ernsthaft gedacht: Was, wenn doch. Der Arzt hatte ihm sachlich und mit diesem professionellen Optimismus erklärt, was nun zu tun war und getan werden müsse. Gruber hatte da gesessen, auf einem grauen Sessel in einem beigen Zimmer gegenüber einem bulligen Arzt, der mehr wie ein Boxer aussah als wie ein Onkologe und hatte zugehört, Informationen in seinen Kopf gepumpt, der jetzt auf einmal wie leer wirkte, wie rebootet, wie neuformatiert. Alle unwichtigen Gruber-Daten waren schlagartig gelöscht oder zumindest auf eine externe Festplatte verschoben worden, um Platz zu machen für die Information, die Gruber brauchte, um Gruber zu bleiben. Generell, um zu bleiben. Gruber hatte geblickt, genickt und nachgefragt. Mhm. Ah ja. Drei Monate, dann kann man etwas sagen, okay. Okay. Dann hatte der Arzt gefragt, ob er noch Fragen habe. Nein, im Moment nicht. Dann hatte die Ordinationshilfe gefragt, ob sie jemand anrufen solle, um ihn abzuholen. Nein, danke. Oder ihm ein Taxi rufen. Nein, alles okay, danke.
Und dann war er hinausgegangen in die frische Luft, die gar nicht frisch war, sondern warm für März, und er war auf der Straße, einer belebten Innenstadtstraße, stehen geblieben und hatte den Arm in die Luft gestreckt, um ein Taxi anzuhalten, und sein Kopf hatte sich voll angefühlt, und dizzy, und pulsierend und schwirrend, was, wann, wie, warum, wie organisieren, wem sagen, was tun. Sein Blick war, was Gruber gar nicht bemerkt hatte, an einem Kirchturm und der Kirchturmuhr festgeklebt, zufällig, die Uhr war eben gerade das Markanteste in Grubers Bildausschnitt gewesen, sie war eben gerade da, zwölf Uhr, vierzehn Minuten, hatte Gruber registriert, ohne dass es ihm etwas gesagt oder bedeutet hätte. Ein Taxi hatte längst angehalten gehabt, ohne dass Gruber es bemerkt hatte, er war immer noch da gestanden, mit erhobenem Arm, während Leute an ihm vorbeispazierten und vorbeieilten, sprechende Leute, lebende Leute, gesunde Leute, Leute mit einer Zukunft, oder jedenfalls mit etwas, das so hieß, und er hatte blöd mitten unter ihnen gestanden und war nicht mehr gesund und hatte es vielleicht nicht mehr: eine Zukunft und ein komplettes, vollständiges Leben. Auch wenn man es ihm nicht ansah, wenigstens das. Gruber war sich mit der anderen Hand durch die Haare gefahren, das Taxi hatte zum zweiten Mal gehupt, jemand hatte ihn angetippt, Gruber hatte die Winkhand fallen gelassen und war hinten eingestiegen, ohne eine Entschuldigung auch nur zu murmeln. Dann war es zu einer kurzen Irritation gekommen, weil Gruber sich nicht überlegt hatte, wo er eigentlich hinwollte, er wollte nicht heim,
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