Gruber Geht
geschehen, dass ihm eines seiner Gruberschen Fundamentalprinzipien aus der Hand genommen und aus dem Fenster geschmissen wird, quasi. Er lässt geschehen, dass er es geschehen lassen will. Hätte ihm das noch vor Wochen einer unterstellt, dem hätte Gruber ansatzlos in die Pappn gehauen, Arschloch, und jetzt schleich dich, aber zickezacke, bevor meine Linke auch noch aufwacht. Aber nun hat Gruber plötzlich keine Zeit mehr; keine Zeit außer jetzt, und kein Leben mehr, außer dieses unmittelbare hier. Und da es sich Gruber nun einmal aussuchen muss, ob er jetzt a) lebt oder b) kneift und als harmloser, sittenfester, prinzipientreuer Spießer stirbt, entscheidet sich Gruber für Trommelwirbel Trommelwirbel Trommelwirbel: A. Verbeugung, Abgang.
Nein, eben kein Abgang. Hose zuknöpfen, Gürtel einfädeln, Händewaschen, abtrocknen, vor dem Spiegel das Hemd zurechtzupfen, die Haare, die immer noch guten, einigermaßen vollen, aber kurzen Haare zurechtdrücken und dann schön zurückgehen an die Bar zum schönen Henry, der mit dem Barmann plaudert. Der beugt sich etwas zu entschieden über den Tresen Henry zu. Schön auf den Barhocker neben Henry gleiten, der den Barkeeper sofort fallen lässt, gut. Schön sitzen bleiben mit Henry. Sich von Henry noch einen Drink bestellen lassen. Wann war Gruber zuletzt in der Position, dass ihm jemand einen Drink bestellt hat, wann hat sich Gruber zuletzt von jemandem Drinks bestellen und einladen lassen? Von seinem Vater, an seinem sechzehnten Geburtstag. Von seinem Vater, nach dessen Trennung von der Mutter. Davor und danach kann sich Gruber an keine Gelegenheit erinnern, außer jetzt. Wenn er mit Philipp aus war, das zählt nicht, denn vor jedem Drink, den ihm Philipp je geordert hat, hat Gruber Philipp Minimum zehn oder zwölf Drinks bestellt, und bezahlt. Und jetzt lässt sich Gruber von Henry einladen, dem schwulen Henry, kürzlich noch: die schwule Sau. Es ist, realistisch betrachtet, zum Davonrennen gestört. Wie Henry jetzt immer öfter im Gestikulieren an Grubers Arm greift, Grubers Schulter berührt, Grubers Schenkel streift. Zum Davonrennen. Gruber rennt trotzdem nicht, denn hier, in dieser Wattewelt, in diesem Lächel-Universum, hier ist es okay. Hier ist es richtig. Ja, Gruber nimmt noch einen, ja, gern. Da, schau, ich renne nicht weg, denkt Gruber, ich bin keine feige, spießige Sau, und Sarah (da ist sie wieder, aber das Kleid ist jetzt grün, smaragdgrün, mit einem leichten Schimmer) lächelt immer noch, aber nicht mehr mitleidig jetzt, sondern, tatsächlich stolz. Stolz auf den mutigen, unspießigen Gruber, guter Gruber, braver Gruber, Super-Gruber, Superduper-Gruber. Gruber merkt, dass er ein wenig betrunken ist. Gruber denkt: scheiß drauf, ist genau gut so.
Henry sieht übrigens nicht nur gut aus, Henry ist auch nett. Henry ist ein guter Zuhörer und ein amüsanter Erzähler. Henry hat einen Drei-, nein, einen Zehn- oder Fünfzehn-Tage-Bart, das sieht gut aus, Gruber fährt sich über sein eigenes Kinn, makellose Gilette-Glätte, eine gruberimmanente, cleane Unbewachsenheit, die Gruber bisher nie auch nur eine einzige Sekunde in Frage gestellt hat. Nassrasur, täglich, mitunter zweimal täglich. Konnten rund um ihn alle als Rübezahl gehen, hat Gruber nicht ein einziges Mal persönlich genommen. Aber jetzt wurde auch dieses Lebensfundament durch den Tropfen des Zweifels vergiftet, und Gruber spürt, wie das Gift zu wirken anfängt. Bart, aha, Bart wäre eine Möglichkeit. Wenn jetzt sogar schon die Schwulen Bärte tragen. Eh. Henry hat schöne Hände mit langen, eleganten Fingern, mit denen er beim Reden in alle Richtungen ausfährt und einmal erwischt er dabei Grubers Glas. Henry kann unter seiner Gesichtsbehaarung sehr reizend erröten und sehr anschaulich auf Englisch fluchen. Henry sagt, er hat eine putzige, aber very gemutliche Wohnung im First District und von seinem tiny Balkon sieht man den intakten Turm des Stephansdoms. Henry hat ein eigenes kleines P R -Büro, betreut ein paar Bands und organisiert Mode-Events und Foto-Shootings und so Zeug. Henry stammt aus New York, dem Staat, nicht der Stadt. Er hat in London studiert und landete wegen der Liebe in Wien. Aha?, sagt Gruber, lange vorbei, sagt Henry, nothing to write home about. Henry ist momentan mit niemandem zusammen, also, nun ja, es gibt da jemanden, aber es ist kompliziert. Henry ist nicht bei Facebook, sondern woanders. Wo woanders. Nun ja, bei Gayromeo halt. Aha. Henry würde eigentlich lieber
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