Gruber Geht
ausgeklügelte Kunstwildnis, die, adäquat zu Grubers Gesichtsbehaarung, nur deshalb so zufällig und natürlich ausschaut, weil sich jemand Tag und Nacht auf Knien darum kümmert. Kathis Garten, jedenfalls dieser Teil zur Straße hin, ist eine echte, unbekümmerte Unkrautwildnis. Hohes Gras, unkontrolliert wuchernde Büsche, mannshohe Brennnesseln und ein Dutzend Obst- und Nussbäume, an denen Schaukeln, Ringe und bunt gestreifte Hippie-Stoffsessel hängen, unter denen das ungemähte Gras völlig zertrampelt ist. In einem Nussbaum wächst ein schon etwas morsches Baumhaus, oben ragt eine Stange mit einer zerfetzten Brasilien-Fahne heraus. Überall liegt Spielzeug herum. Überall Maulwurfshaufen. Überall tritt man in heruntergefallenes Obst, das niemand aufhebt. Hier sollte dringend eine ordnende Hand eingreifen, denkt Gruber. Ein Gärtner müsste her, nein, zwei bis vier Gärtner, und ein paar Holzfäller.
Schön hier, sagt Gruber.
Kathi lauert ihn skeptisch an.
Was denn?, sagt Gruber.
Sie warte auf das aber, sagt Kathi.
Schön hier, sagt Gruber.
Es ist ein altes Steinhaus, das der Spießer von seiner Großmutter oder Großtante geerbt hat und an das er im Laufe der Jahre und der Familienerweiterung große, außen unbehandelte Holzkisten gebastelt hat, mit lauter verschiedenen alten, irgendwo zusammengeschnorrten Fenstern. Die Kisten ragen aus dem Haus heraus, stehen teilweise auf Pfählen und bilden die Dächer der Veranden. Es sieht total gestört aus, als hätte das Haus Geschwüre, große eckige Furunkel, aber irgendwie, Gruber gibt es gar nicht gerne zu, wirkt es auch sehr gut. Überraschend unspießig. In zwei der Kisten schlafen und spielen die Kinder, in einer kleinen, die offenbar neu dazu gekommen ist, erkennt Gruber vom Garten aus einen großen Duschkopf, und in einer weiteren Kiste, die oben aus dem Dach herauskragt und die man nur gebückt durch eine ehemalige Gaube betreten kann, steht ein Gästebett. Sein Gästebett. Durch die Fenster sieht man in den Mischwald, der ein-, zweihundert Meter hinter dem Haus beginnt. An den Veranden hängen rot-weiß-blaue Türkentaschen, aus denen Tomaten und Kräuter wachsen. Wein rankt übers Holz dicht und grellgrün bis zum Giebel des Hausdachs hinauf. Gruber bringt dann mal seine Sachen hoch, und, danke, er finde den Weg noch, und ja, Mami, ich weiß, es ist niedrig und ich werde wie immer gut auf meinen Kopf aufpassen.
Gruber buckelt die schmale Treppe ins Dach hinauf und fädelt sich durch das Türchen ins Gästezimmer, ein vom Boden bis zur Decke glänzend weiß lackierter Raum. Dielen, Wände, Decke, Fensterrahmen – alles weiß, mit einem weißen Holzhocker und einem bunten Fleckerlteppich. Das Bett ist mit Wäsche aus den siebziger Jahren überzogen, türkis, blau, grün gemustert. Gruber schmeißt die Tasche auf den Boden und lässt sich auf das Bett fallen. Auf den Rücken, erdenschwer, die Arme platschen ihm wie tote, nutzlose Flügel neben die Brust, in seiner Seele knackt etwas, reibt sich, knarzt und stört, als wäre sie ein schlecht eingestellter Sender. War das eine gute Idee, hierherzufahren, war das eine gute Idee, war das eine gute Idee, gerade jetzt hierherzufahren, wo alles so schwer ist in ihm und so viel Platz braucht, Platz wollen würde, Platz sucht und nicht nicht nicht findet, nicht findet. Und auch nicht finden soll, teilweise, ja, auf gar keinen Fall finden soll, bloß nicht. Und hier ist es so eng. Dieses Schlafkistl, diese Familie, die Möglichkeiten, die Vorgaben, die Erwartungen. Alles eng, eng. Alles begrenzt. Alles nach allen Richtungen geschlossen. Überall sichere, dichte Grenzen, wo es nicht weitergeht. Gruber fühlt sich durchzogen, beherrscht von dieser Metaphorik, er eingekastelt in dieser Kiste, sein Tumor eingekistelt in seinem Bauch, und vielleicht, wenn man ihn lange genug hier behält, mit den richtigen Sachen füttert, mit den richtigen Mitteln attackiert, vielleicht verschwindet er, Gruber, dann auch. Vergeht einfach, in diesem Zimmer, in diesem Bett. Oder aber er wächst, wie der Tumor, in diesem Zimmer, wird breiter und höher und größer, wächst in das Zimmer hinein und wächst das Zimmer voll, bis das Zimmer zerspringt und er hinausfließt, über die Dächer und Veranden und im Garten einfach versickert, zwischen den Brennnesseln und dem zertretenen Obst. Was für ein scheiß Unsinn, denkt Gruber, so ein dummer blöder Blödsinn, denkt es in ihm, hab ich etwas genommen?, ich hab doch nichts genommen,
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