Gruber Geht
einen nach dem anderen, dass es weh tat, augenblicklich noch weher als der Umstand, dass Gruber keine Haare mehr am Kopf hatte. Dass er krank, dass er so krank, derart scheißkrank war, dass es jetzt jeder sehen konnte.
Danach hatte sich Gruber seine alte, abgewetzte Adidas-Schirmkappe auf den Kopf gesetzt, jede in der Stadt verfügbare Designer-Kopfbedeckung gekauft, Baseball-Kappen, Schieberkappen, Franzosenmützen, Hauben im Doppelripp-Baumwollstrick und so einen geflochtenen Landhausbesitzerstrohhut, wie ihn der Spießer in einer Lagerhaus-Billigversion immer auf dem Kopf trug. The times, they are a-changing. Als er beim Arzt war, der ihm erklärte, wie es jetzt weitergeht, und dem er einfach ungeniert erzählt hatte, dass er jetzt erst einmal nach Berlin fährt und was der Grund für seine Reise sei, hatte er die Adidas-Kappe getragen. Der Arzt hatte reagiert wie von Gruber erhofft. Erstaunt irgendwie, zuerst. Aber auch beeindruckt, gewissermaßen. Als hätte Gruber, trotz seines malignen Lymphoms, trotz der in ihm wühlenden Krankheit, trotz drohender Metastaseninvasion, trotz der ihn brutal zusammendreschenden Chemotherapien nebenher das Matterhorn erklommen, ohne Sauerstoff. Anerkennung, Herr Gruber, Respekt. Das hatte der Arzt nicht gesagt, das hatte Gruber ihn nur denken sehen. Hatte er lesen können in des Doktors Gesicht. Zumindest ungefähr.
Wobei Gruber nun, in diesem Hotelzimmer in Berlin, als er die Adidas-Kappe abnimmt, die er seither mit Nikilaudaschem Gleichmut fast immer trägt, das Gefühl hat, dass er das Matterhorn eben gerade erst vor sich sieht, durch das Hotelfenster, wuchtig, mächtig, zum Greifen nah, es zerquetscht den Potsdamer Platz, nein, es hat gesamt Berlin unter sich begraben, und es wirkt augenblicklich extrem eroberungsresistent, absolut unbezwingbar. Unbezwingbarer als alles Bisherige, das zu Gruber nun definitiv mächtig und gemein genug gewesen war. Aber das nun. Das hier jetzt. Boah. Tja. Glatzkopf Gruber momentan: praktisch machtlos.
Das war dann ... das war ein Schock. Ich meine, nachdem es nun endlich gerade richtig passte. Nachdem es nun endlich langsam anfing, schön altmodisch langsam. Zuerst waren wir ja ganz modern im Sprint mitten hinein gesprungen, ging ja auch nur um den Sprung. Man ist ja so, man ist cool, man ist tough, erst der Sex, erst das Vergnügen, dann vielleicht mal die Arbeit, aber eher nicht. Meistens eher nicht. Dann die Vollbremsung, alles komplett abgestoppt, alles abkühlen lassen. Warteposition, ist da was oder ist da nix. Man will ja nichts, nö, man will ja gar nichts. Ist einem alles scheißwurscht, ob was ist oder nicht. Immer schön stabil stehen bleiben, ein bissl wegschauen, tun als wär nichts, sonst glaubt der andere zuletzt noch ... Das Spiel halt. Kennen wir alle. Musst du spielen, sonst trifft dich der tödliche Uncoolitätsverdacht. Und dann sind wir doch langsam wieder gestartet, im Spaziergangstempo, easy, slow. Und nach Wien war dann endlich alles gerade richtig, ganz überraschend richtig, fühlte sich auch richtig an, auch so, als würde es sich für ihn richtig anfühlen, hatte den richtigen Flow, die richtigen Vibes, die passenden Worte, es fühlte sich gemeinsam an. Ein minikleines, fast unsichtbares, labiles Wir, aber doch ein Wir. Es gab so einen Moment, nachdem er mich im Hotel abgeholt hatte und unter dieser Kuppel dort beim, wie heißt das, dort beim Heldenplatz diese merkwürdig peinliche Performance aufgeführt hatte, er pfiff irgendwas, es hallte und echote wie verrückt, die Leute drehten sich um und starrten uns an, es war ziemlich zehennägelaufrollend. Aber danach gingen wir an diesem unglaublich schönen kaiserlichen Gewächshaus vorbei, in dem jetzt ein Restaurant ist, und dann in der Nähe vom Naschmarkt zu diesem Gasthaus, da gab es zwischen uns so eine merkwürdige Übereinstimmung. Einen inneren und äußeren Gleichschritt, einen Moment, einen langen Moment der stillen, wortlosen Harmonie. Die Harmonie war spürbar, ganz weich und geschmeidig. Es war sehr schön. Auch, dass er endlich mal die Klappe hielt, darin ist der ja nicht so gut. Und es war angenehm, nicht peinlich oder so. Und in dem Moment dachte ich: Es könnte vielleicht funktionieren. Es könnte vielleicht tatsächlich funktionieren mit dem, obwohl der doch ziemlich irre ist. Es hat vielleicht doch gestimmt, was ich gespürt habe, damals am ersten Tag. Dass das etwas Wichtiges ist, etwas Schicksalhaftes, etwas Vorbestimmtes, unverhandelbar. Ich
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