Gruber Geht
Unvorstellbarkeiten im Allgemeinen und Speziellen ist: Krebs zu haben, das konnte er sich eigentlich auch nie vorstellen. Keine Haare zu haben ebenfalls nicht. Ist jetzt aber beides der Fall. Jetzt kriegt er zu all diesen real und fühlbar und lebbar gewordenen Unvorstellbarkeiten halt offenbar auch noch ein unvorstellbares Kind dazu. Danke, Schicksal. Hat wohl noch nicht gereicht, die Scheißgasse, durch die er eh schon watet bis Oberkante Unterlippe. Gehört offenbar auch noch ein Balg dazu, gratis, Dankeschön, Top Extrabonus, im Scheißpreis inbegriffen.
«Ist mir klar», sagt Gruber.
Und, das weiß Gruber gar nicht so weit hinten in seinem Kopf durchaus schon, das wird er jetzt eben auch lernen müssen. Leben müssen. Er will es nicht, aber er weiß es schon. Er will immer noch, dass es nicht passiert, dass es weggeht. Er will das Kind nicht. Aber er wird es wollen müssen. Er spürt es schon. Weil, wie er längst gespürt hat, Sarah das unbedingt leben will. Die will das wissen. Fährt die Eisenbahn drüber, hat Gruber gleich gewusst. Hat sie ja auch gleich klargemacht, mit ihrer SM S . Das war ja eben nicht so eine Ich-bin-schwanger-hilfe-bitte-rette-mich- SM S . In der SM S war ja schon alles fix, die ließ Gruber ja eh keine Wahl. Und er weiß schon, dass er hier praktisch nur pro forma sitzt, und Sarah weiß es sowieso, und zwar schon deshalb, weil er sich, seien wir uns ehrlich, doch tüchtig Zeit gelassen hat mit dem Herkommen, um bei einer Sache mitentscheiden zu wollen, bei der Zeit ein nicht gerade unentscheidender Faktor ist. Aber er hat bitte auch einen starken Willen, und den wird er hier und heute vorführen, vielleicht ist es ja noch nicht zu spät. Er wird zumindest in aller Deutlichkeit klarmachen, dass er es und wie sehr er es nicht will, er wird auf jeden Fall versuchen, es abzuwenden. Sie tun jetzt beide so, als wüsste es Gruber nicht, dass er sowieso verliert, sehr wahrscheinlich schon verloren hat. Als wäre die Sache nicht längst gegessen, sonnenklar, was immer. Gruber hat in seinem Leben genug Verhandlungen geführt um zu wissen, dass es auch bei dieser hier nur noch um Details und Logistik und einen Abschlag da und einen geänderten Passus dort geht, auch wenn alle so tun, als sei noch alles komplett offen. Obwohl alle sehen, dass der eine die Kröte längst im Maul hat und jetzt nur noch an den Beilagen und am Dessert herumlamentiert, und der mit der Kröte, das ist nun eben Gruber. Weiß er, ja. Er kann im Prinzip gar nichts machen. Er kann sie ja zu nichts zwingen und sie zu nichts überreden. Versuchen ja, aber die Sinnlosigkeit dieses Versuchs hat er schon begriffen. Er hat das Unvermeidliche, er ist ja ein braver und mittlerweile erfahrener Leidensmann, längst akzeptiert, er hat diesmal drei der fünf Patientenstufen, Verdrängung, Wut, Feilschen, gleich übersprungen und ist jetzt ziemlich genau zwischen Depression und Annehmen, und dabei auch schon ein bisschen näher an der Akzeptanz. Braucht Sarah jetzt aber noch nicht zu wissen. Er wird jetzt mal ein bisschen Muskeln zeigen, sonst glaubt die noch, er ist ein totales Lulu. Da, guckstu, fühlstu, dicke Muckis, eisenhart. Ja, genau.
Und ja, er findet es tatsächlich nicht richtig. Dass sie das Kind kriegen will und dass er in dieser Sache ganz offensichtlich nichts mitzureden und nur noch fixfertige Entscheidungen zu akzeptieren hat. Scheiße findet er das. Aber. Aber er will sie endlich wieder grinsen sehen. Und er wird. Aber heute muss sie sich ihr eigenes Grinsen erst verdienen, ja, Sakrament, so billig gibt es das heute nicht. Er kriegt schließlich auch nichts umsonst derzeit, gar nichts kriegt er, immer nur noch eine Fuhre Mist auf den großen Misthaufen geschaufelt, immer noch mehr Scheiße auf die Scheiße drauf.
«Ich weiß eh, dass es für dich ein eher äh schwieriger Zeitpunkt ist», sagt Sarah. «Wie geht es dir denn überhaupt?»
«Siehst du ja», sagt Gruber. «Neue Chemo, neue Wirkung. Die erste hat’s nicht ganz gebracht. Und es lässt sich noch nicht sagen, ob die jetzt mehr bringt als diese schicke neue Hautperücke.»
Da! Da ist es! Das Sarah-Vogel-Grinsen, Kleinformat. Ihr Breitband-Grinsen traut sie sich noch nicht, erscheint ihr wohl unangemessen, und sie packt auch das kleine gleich wieder weg. Ernstes Gespräch, das, erfordert ernsthafte Mimik.
«Oh», sagt sie. «Hast du noch viel vor dir?»
«Einmal Chemo, dann noch Bestrahlung», sagt Gruber. «Danach weiß man dann mehr.»
«War es sehr
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