Gruber Geht
Welt zu retten, was natürlich unendlich viel wichtiger ist als die eigenen Kinder, weshalb Gruber seinen Vater unter der Woche relativ selten zu Gesicht bekommen hatte. Unter der Woche hatte der Vater praktisch in der Redaktion gewohnt, wo er zwischen seinen Preisen und Urkunden bewegende Reportagen recherchierte, schrieb, aß, soff und die jungen Kolleginnen vögelte. Er hatte gelebt in der Redaktion und in den angrenzenden Lokalen, von denen wenigstens zwei ihre Existenz Grubers Vater schlicht verdankten. An den Wochenenden war er von seiner anstrengenden Arbeit meistens völlig erledigt gewesen und hatte seine Familie in teure Restaurants geschleppt, in denen sich Kathi, Ben und er fürchterlich langweilten und die Mutter gestresst war, weil sie es als ihre Aufgabe erachtete, die gelangweilten Kinder zu kalmieren, während der Vater mit den Köchen über den ultimativen Tafelspitz schwafelte – das hatte Gruber wohl geerbt – und mit den Sommeliers über den Wein. Und sonntags dann Zoo. Sein Vater schrieb jetzt, soweit Gruber wusste, fast nur noch Fress- und Wein-Kolumnen, aber das hinderte ihn, nach allem was Gruber von Kathi hörte, nicht daran, seine neue Familie genauso zu vernachlässigen wie seine alte. Immerhin, er lebte noch. Er war existent für seine Kinder, irgendwie. Und da stieß Gruber eben an die Sache, über die er eigentlich nicht nachdenken möchte: Dass er selbst das vielleicht nicht sein würde: existent. Sondern der fremde Vater, der dem Kind dann auch einfach noch wegstirbt ... Verdammte Scheiße, nein. Es geht nicht. Er weiß, er weiß ja schon, dass es passieren wird, so oder anders, aber es ist und bleibt unvorstellbar. Es. Geht. Nicht.
«Weißt du», sagt Gruber, «ich kann es mir einfach nicht vorstellen.»
«Es gibt ...», sagt Sarah. «Nein, warte!», sagt John. «Ich kann es mir einfach tatsächlich nicht vorstellen. Buchstäblich nicht. Ich bin nicht in der Lage, mich mit dem Kind vorzustellen. Kannst du? Siehst du dich mit dem Kind? Wie siehst du dich? Und wie siehst du mich mit dem Kind? Ich meine: Ich und ein Kind, stell dir das bitte vor! Und wo wirst du wohnen und das Kind? Und wo werde ich sein? Wo werde ich sein? Einmal abgesehen davon, dass ich vielleicht gar nirgends sein werde, sondern tot. Tot, Sarah.»
Jetzt lehnt Sarah sich zurück, schon wieder gut, dass man Lehnen hat. Sie ist offenbar verblüfft, ja erschrocken darüber, dass Gruber gleich an die Substanz geht, und darauf ist Gruber jetzt, obwohl oder weil ihn seine Ansprache selber etwas mitgenommen hat, sogar ziemlich mitgenommen hat, auch ein bisschen stolz. Achtung, nichts anmerken lassen! Würde alles ruinieren! Andererseits es ist ja wirklich scheiße ernst. Er meint es ja wirklich so, selbst wenn er sich dabei beobachtet, wie er wirkt, wenn er davon redet. Er spürt den Schmerz, auch wenn er es nicht lassen kann, die Wirkung seiner Worte zu erkunden. Es ist, wie wenn sich einer aus Interesse selber den Handrücken blutig kratzt, da muss der auch hinschauen. Und er kann nun mal nicht anders, entweder man ist ein selbstbeobachtender Kontrollfreak oder man ist es nicht, und Gruber ist nun mal einer, und trotzdem meint er es wirklich so. Wirklich.
Und Sarah, wie Gruber jetzt sehen kann, Sarah kapiert das. Sarah sagt:
«Nein, ich kann mir das auch nicht vorstellen. Ich kann mir das Baby nicht vorstellen. Ich kann mir das Leben mit dem Baby nicht vorstellen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, Mutter zu sein. Aber weißt du was? Soviel ich weiß und soweit ich gehört habe, kann das niemand.» Genau, denkt Gruber, und wie es ist, tot zu sein, das kann auch niemand. Und man ist es trotzdem, früher oder später.
Sarah beißt jetzt doch in so ein frittiertes Hühnerteil, sieht aber nicht aus, als täte sie es mit Appetit. Eher, als täte sie es, weil es eben gerade da ist. Oder weil sie eine kleine Pause oder Ablenkung braucht. Sie beißt, kaut, schluckt, und dann ist die Pause vorbei, denn sie sagt: «Niemand kann das, nach allem, was mir meine Freundinnen erzählen. Und meine Schwester. Niemand. Auch die nicht, die darauf vorbereitet sind und schon immer ein Kind gewollt haben.»
Das hat Gruber auch schon gehört. Er dachte bislang nur nicht, dass es ihn etwas angeht, dass es etwas mit ihm zu tun habe oder je haben werde. Hat sich jetzt wohl geändert. Sich etwas nicht vorstellen zu können, ist nun eben einmal nicht Grunds genug, um davon verschont zu bleiben. Und, weil er gerade bei den
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