Gruber Geht
Abtreibungsklinik. Ich hatte einen Termin. Aber ich habe ...»
«Du hattest einen Termin in einer Abtreibungsklinik?»
«Ja.»
«Und du warst dort?» Gruber schaut Sarah an.
«Ja. Bis vor der Tür. Dann ...»
«Bevor oder nachdem du mir die SM S geschickt hast, dass du schwanger bist?»
«Davor. Ich ...»
«Du wolltest es einfach wegmachen lassen, ohne mir etwas davon zu sagen? Mein Kind?»
Und das ist der Punkt. Sein Kind. Das ist jetzt der Punkt, an dem sich alles umdreht, an dem Gruber wirklich die Fassung verliert. In seinem Kopf schleudert was. Es ist der Punkt, an dem es schlagartig nicht mehr darum geht, was er sich vorstellen kann und was nicht. Und was ja im Prinzip eh egal ist, weil man sich doch naturgemäß bis zum Moment der Wirklichwerdung egal welcher Sache und Angelegenheit gar nichts vorstellen kann. Nicht wie man sich in einem maßgeschneiderten Savile Row Bespoke Suit fühlt, nicht wie es ist, eine Frau mit Intimpiercing zu vögeln, nicht wie es sich in einem Kerl anfühlt, nicht, wie es sein wird, wenn man dieses E jetzt schluckt, nicht wie es sich anfühlt, Krebs zu haben, nicht, wie furchtbar man sich nach einer Chemo fühlt und nicht, wie es ist, wenn man jemanden verliert, nicht wie weh es tut, wenn man sich einen Finger abschneidet und nicht, wie man ein Kind hat. Und nicht wie man plötzlich eine konkrete Zukunftsaussicht hat, die man beinahe verloren hätte. Es ist der Moment, in dem Gruber plötzlich begreift. Dass er beinahe, wie um seine sture, vertrottelte Vorstellungs-Resistenz zu verhöhnen, gar nicht in die Verlegenheit gekommen wäre, sich das Kind vorstellen zu müssen, vorstellen zu können: Weil Sarah ums Haar einfach selbst getan hätte, was er glaubte, ihr vorschlagen zu wollen, wozu er glaubte, sie überreden zu müssen. Und das kippt Gruber buchstäblich aus den Schuhen. Dass sie ihm das nehmen hatte wollen, dass sie ihm, bei allem, was ihm eh schon genommen wird, auch das noch hatte nehmen wollen, ohne ihn zu fragen. Er starrt auf das Leuchtschild an der Feuermauer. KIN O . Dazu ein Pfeil, der nach unten zeigt.
«Ja, Sarah», sagt Gruber, «ja. Ich respektiere das alles. Irgendwie. Aber es geht trotzdem nicht. Es tut mir leid, Sarah. Es geht nicht. Es ist nicht okay, dass du mich nicht mitentscheiden hast lassen. Es ist nicht okay, dass du mich nicht gefragt hast, ob ich das will und ob ich kann. Und es ist nicht okay, dass du mein Kind abtreiben lassen wolltest, ohne es mir auch nur zu sagen. Und ich kann das nicht. Ich kann das jetzt nicht mit dir ... Ich kann jetzt nicht weiter mit dir reden. Ich kann nicht.» Gruber steht auf und schiebt seinen Sessel zurück und schaut sie an. Sie ist sehr blass. Sie versucht zu lächeln, es ist ein verheerender, herzzerreißender Misserfolg.
«Es tut mir leid, Sarah, aber ich kann das jetzt nicht.»
Sie weint nicht, sie wirkt überrascht, ja erschüttert, aber irgendwie doch auch gefasst. Gruber sieht, dass das Surimi noch auf seinem Teller liegt, er hat das Surimi nicht bekommen und er hat das Grinsen nicht gekriegt, aber Gruber muss jetzt gehen, und Gruber dreht sich um, und Gruber geht jetzt.
Und was, wenn es doch noch nicht zu spät ist? Gruber sitzt vor dem Galão auf einem dieser furchtbaren Ikea-Plastikmonoblock-Fauteuils, den
FA
Z
-Wirtschaftsteil auf den Knien, den Rest hat er gleich weggeschmissen, einen Espresso neben sich auf der Mauer. Was, wenn sie es sich nach seinem dramatischen Abgang doch noch einmal überlegt? Er sollte sie anrufen. Später. Jetzt hat er noch einen zu dicken Schädel. Hat sich gestern noch weggebügelt, nachdem er aus dem Kuchi weg ist, sowas von weggebügelt, drei Ibuprofen hat er heute gebraucht, bis er halbwegs in der Lage war, sein Hotel zu verlassen, etappenweise. Erst raus aus dem Zimmer, dann zwei Espressi und die zweite Ibuprofen in dem tatsächlich sehr idyllischen Frühstückssaal, in den grün gefilterte Sonne tröpfelte, dann hinaus auf den Potsdamer Platz und in ein Taxi. Mit so einem Schädelweh. Im Taxi noch eine Ibuprofen, die er cool ohne Wasser zerkaut hat, Gregory-House-Schule, schmeckte grauslich und klebte lang an seinem Gaumen. Soweit er sich an gestern Nacht noch erinnern kann, hat er jetzt ein paar neue Freunde in Berlin. Und es gibt, wie er sich weiters erinnert, auf der Welt zu all den Kellnern, die ihn hassen, jetzt noch ein paar neue dazu, die ihn für eine absolute Pestilenz halten, zum Beispiel die aus dem Soho House, wohin ihn einer seiner neuen Freunde
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