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Grün. Le vert de la Provence

Grün. Le vert de la Provence

Titel: Grün. Le vert de la Provence Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Burger
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die vor ihm kniende
Frau gerichtet war. Es war ein herrischer Blick, fordernd und ungeduldig.
    Die Frau sah kurz auf, betrachtete sekundenlang das
Mädchen. Es trug seine sommerliche Designerkleidung mit der gleichen
Überheblichkeit, wie sie auch in der piepsigen Kinderstimme durchklang. Die
Frau hatte wenig Erfahrung mit kleinen Kindern, trotzdem war ihr klar, dass es
vor den Fragen dieses Kindes kein Entkommen geben würde. Sie wendete den Blick
wieder der Erde zu und zerrieb, die Konsistenz prüfend, einige Krumen zwischen den
Fingern. Die Wochen der Trockenheit hatten den Boden zu groben kristallinen
Klumpen gebrannt, die keine Feuchtigkeit aufnehmen oder speichern konnten.
    Für die Mittagszeit war ein Unwetter angekündigt worden.
Bei derartigen Witterungssituationen würden sich die Wolken, die von der
Feuchtigkeit über dem Mittelmeer gesättigt waren, in Wasserkaskaden an der
Bergfront entladen und einen noch größeren Schaden an den Pflanzungen
anrichten, als es die Sonne vermocht hatte. Es wäre jetzt viel zu tun. Sie
müssten die Pflanzen schützen, die gefährdetsten von ihnen in die Gewächshäuser
bringen, die Folien über den Gärtnertischen gegen den zu erwartenden Sturm
befestigen, den kontrollierten Wasserablauf ermöglichen, sich Gedanken über
Tausende von denkbaren Katastrophensituationen machen. Aber das Kind hinter ihr
würde freiwillig nicht weichen. Insgeheim hoffte sie, ein Elternteil würde
herbeieilen, das Kind bei der Hand nehmen und mit sich fortziehen, aber die
Stimme hinter ihrem Rücken belehrte sie eines anderen. „Ich habe dich gefragt,
warum da ein roter Punkt ist?“ Der Ton war schärfer geworden, maßregelnder. Sie
drehte sich wieder dem Mädchen zu, blieb aber auf dem Boden knien. „Weil diese
Pflanze sehr giftig ist. Alle giftigen Pflanzen sind hier mit einem roten Punkt
gekennzeichnet.“ Sie wusste, wie die nächste Frage lauten würde und spürte
heftigen Unwillen in sich aufkeimen.
    „Warum?“
    Ihr fiel keine pädagogisch wertvolle Antwort ein und sie
sah sich dazu auch nicht veranlasst. Sie war für die Pflanzen verantwortlich,
nicht für kleine Diven. „Damit man sie nicht anfasst“, entgegnete sie kurz
angebunden und ahnte bereits die kommende Frage.
    „Was passiert, wenn man sie anfasst?“
    „Man vergiftet sich.“
    „Stirbt man dann?“
    Die Frau griff mit einem Handschuh einen der dünnen
Zweige der Staude, an dem traubenförmig stehende blau-lila Blüten wogen. „Man
kann daran sterben.“
    „Werde ich sterben, wenn ich die Pflanze anfasse?“ Das
Kind war unmerklich über den niedrigen Zaun getreten und hatte sich zur Staude
hinuntergebeugt. In seiner Stimme lag eine bedrohliche Bösartigkeit. Es
fixierte die Frau: Ich bin ein Kind, und du musst mich jetzt beschützen, ich
zwinge dich zu etwas, und du musst mir gehorchen, bedeutete diese Provokation.
Die Frau streckte langsam die Hand in Richtung des Kindes aus, während dieses
seine Finger Millimeter um Millimeter an die Pflanze heranführte, ein
diabolisches Blitzen in den Augen.
    Die unerwartete Hilfe kam von links. „Eleonora,
Prinzesschen“, säuselte eine männliche Stimme, „die Frau muss arbeiten.“ Ein
smarter Endvierziger reichte dem Kind seine Hand, ohne die Frau eines Blickes
zu würdigen. Das Kind ging zu seinem Vater und sah noch einmal mit einem
überheblichen Grinsen zur Frau zurück.
    „Da hast du dir aber eine hübsche Blume angeschaut“,
säuselte der Vater weiter und beugte sich über das Schild im Beet. „Aconitum
napellus“ , buchstabierte er, „das ist aber auch ein hübscher Name!“
    „Blauer Eisenhut“, ergänzte das Kind, das sorgfältig alle
Informationen auf dem Schild gelesen hatte. „Die Frau hat gesagt, dass sie mit
dieser Pflanze Menschen sterben lassen kann.“ Das Kind schmiegte sich an den
Vater und zog ihn weiter in Richtung des Klosters. Der Blick der Frau folgte
beiden, dann betrachtete sie sorgenvoll den Himmel. Er umrahmte die Steinquader
der alten Prieuré mit der Farbe von Aluminium.
    Noch einmal griff sie mit den behandschuhten Fingern nach
dem Blauen Eisenhut, wog ihn sanft und betrachte ihn mit liebevollem Blick.
Viele der Giftpflanzen, die in den ethnobotanischen Gärten des Klosters wuchsen,
hatte sie in der Natur gesucht und in die Sammlung eingebracht. Sie kannte die
Standorte, aber auch die Wirkungsweisen dieser Pflanzen. Ein Wissen, das sie
von ihrer Mutter und diese von den vorangegangenen Frauengenerationen in der
Familie übernommen

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