Grün. Le vert de la Provence
sein – das blonde Mädchen irgendwo aus dem Norden, Pauline
erinnerte sich nur ungenau. Was hatte sie behauptet? Dass sie in Stockholm
Pharmazie studieren und sich für Heilkräuter interessieren würde? Kaum zu
glauben. Schon als das Mädchen sie auf dem Markt von Prades angesprochen hatte,
war ihr das wie eine riesige Inszenierung vorgekommen. Und kaum war sie am
Stand Ed begegnet, begann auch schon die fatale Entwicklung. Melissa war blond,
jung, attraktiv, mit einer fantastischen Figur und Ed hatte sich schlagartig in
einen brünstigen Hirsch verwandelt. Mit unverhohlener Geilheit und Gier bis in
den Tod. Es war grotesk gewesen.
Der Regen hatte an Intensität zugenommen. Orkanartige
Böen peitschten die Wassermassen gegen die Kirche. Mehr geht nicht, überlegte
Pauline. Die drei weit ausladenden Bögen des Portals boten jetzt kaum mehr
Schutz. Unwillig zog sie sich weiter in den Eingangsbereich zurück und suchte
einen Platz unterhalb des Tympanums , der weniger dem Wetter ausgesetzt
war. In dem Kirchenschiff hatten sich die Schutzsuchenden verteilt. Eine Gruppe
hatte sich in dem kleinen Rund der Apsis zusammengefunden, andere saßen an die
Säulen gelehnt, die zwischen dem kleineren Nordschiff und der romanischen Halle
des Hauptschiffs das Tonnengewölbe trugen. Es war nur gedämpftes Gemurmel zu
hören, das von dem Tosen des Unwetters deutlich übertönt wurde.
„Woher weißt du, welche Pflanze giftig ist?“, fragte
unvermittelt die piepsige Stimme neben ihr. Pauline sah kurz hinab, drehte sich
dann ganz um und suchte im Halbdunkel der Kirche nach dem Vater. „Papa sieht
sich das Kloster an.“ Das Kind hatte ihren suchenden Blick verfolgt.
Vor diesem Mädchen gab es kein Entkommen. Pauline knüpfte
resignierend an die Frage an. „Meine Mutter und meine Großmutter kannten sich
schon gut aus mit Pflanzen. Die haben mir erzählt, welche Pflanzen giftig sind
und welche man als Medizin benutzen kann.“
Das Kind schwieg einen Moment lang und ließ diese
Informationen nachwirken, bevor es sehr sorgfältig die nächste Frage
formulierte. „Dann kannst du auch kranken Menschen helfen, wieder gesund zu
werden? So wie ein Arzt?“
„Na ja, viele Menschen kennen Pflanzen, die bei
Krankheiten helfen. Die Kamille zum Beispiel.“
„Meine Mama gibt mir manchmal Kamillentee, wenn ich
Bauchweh habe.“
„Siehst du, da kennst du doch selber eine Pflanze, die
bei Krankheiten hilft. Ich kenne eben nur ganz viele Pflanzen, mit denen man Kranken
helfen kann, und ich weiß, welche dieser Pflanzen und welche Teile dieser
Pflanzen bei welchen Krankheiten helfen.“
Das Kind überlegte wieder eine Weile, bevor es die
nächste Frage aussprach. „Kannst du allen kranken Menschen helfen, gesund zu
werden?“
„Vielen“, sagte Pauline.
„Mein kleiner Bruder hatte Mumps, das hat sehr wehgetan“.
Das Mädchen sah erwartungsvoll zu Pauline hinauf.
„Wiesenkleeblüten“, sagte Pauline, „aber man muss daraus
eine ganz schwache Zubereitung erstellen. Das nennt man homöopathisch.“
„Und bei Keuchhusten, was kann man da nehmen?“
„Echter Thymian als Extrakt oder als Tee aus den Blättern
hilft.“
„Und wenn mich eine Wespe gestochen hat, kennst du da
auch eine Pflanze, die hilft?“
Pauline begann, über sich selbst verärgert zu sein. Sie
hätte sich nicht auf dieses Gespräch mit dem Kind einlassen sollen. „Die
Blätter vom Spitz-Wegerich“, antwortete sie und suchte nach einem Weg, um das
Gespräch beenden zu können. „Das hängt aber immer alles davon ab, wie schwer
ein Mensch erkrankt ist.“ Das Kind nickte verständig.
„Dann kommen bestimmt ganz viele Menschen zu dir und
geben dir ganz viel Geld.“
Pauline sah irritiert zu dem Kind hinab, das gelassen in
den Regen blickte.
„Nein. Leider nicht. Die meisten sind sehr arm.“
„Das ist aber dumm!“
„Findest du?“
„Ja.“
Zweiter Teil. Das Grün der Provence
Sonntag, 22. August
Teile des Puzzles
„Wo haben sie ihn gefasst?“, fragte Nicolas Gauthier. Er
rieb mit einem Tuch die immer wieder beschlagende Windschutzscheibe frei, um
wenigstens einen kleinen Blick durch die Wasserkaskaden auf die im Regen
versinkende Straße werfen zu können.
„In Aix, an der Mautstelle der Autoroute.“ Vidal
massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Stirn an der Nasenwurzel, seit er
in den Beifahrersitz gesunken war. Gauthier hatte beobachtet, dass er im Laufe
des Tages immer empfindsamer und gereizter geworden war. Seine Augen
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