Grün. Le vert de la Provence
hatte.
Die meisten Besucher, die sie hier beobachtet hatte,
waren den Wildpflanzen gegenüber arglos, deren schöne Blüten oft über deren
tödliche Wirkung hinwegtäuschten. Nur das Kind hatte mit erstaunlicher
Klarsicht und Kombinationsgabe dies sofort erkannt und in teuflischer Lust mit
der Gefahr gespielt, die von den Pflanzen in diesem Beet ausging. Da wuchs der
tief purpurn blühende Rote Fingerhut, Digitalis purpurea, der
Blaue und der intensiv gelb blühende Fuchs-Eisenhut , Aconitum
lycoctonum , die beide das Nervengift Aconitin enthielten, das
wirksamer als Strychnin war. In ganz geringen Mengen ein seit alters her
bekanntes Mittel gegen Rheuma, war es leider so hochwirksam, dass sie es auf
den Märkten nicht verkaufen konnte und auch nicht durfte. Nur wenige
Milligramm, über den Magen oder die Schleimhäute aufgenommen, ja sogar der
bloße Kontakt über die unverletzte Haut, erzeugte bereits eine zunächst
erregende, später lähmende Wirkung, die schließlich durch Atemlähmung und
diastolischen Herzstillstand zu einem grausamen, schmerzhaften Tod führten. Es
war ein sicheres Mittel, aus dem über Jahrtausende Pfeilgift gewonnen wurde,
und dem viele unbedarfte Opfer ihr überraschendes Ende verdankten.
Die Frau lächelte. Sie könnte auf der Grundlage ihres
Wissens sehr praktische Dienste anbieten. Der Gedanke begann sich bei ihr
weiter zu entwickeln, während sie beobachtete, wie mehr und mehr Besucher
sorgenvoll zum Himmel schauten. Ein beständiger werdender Rückzug zum Parkplatz
setzte ein.
Ihr fiel Sokrates ein, der noch genötigt worden war,
einen Becher mit dem beigemischten Saft des Gefleckten Schierlings , Conium
maculatum , zu trinken, bei dem der Giftstoff – Coniin , wie sie
wusste – eine langsam von den Füßen her aufsteigende Lähmung des Rückenmarks
hervorrief und der Vergiftete schließlich bei vollem Bewusstsein qualvoll
erstickte.
Sie selbst kannte viel diskreter wirkende Stoffe, die
zudem auch weniger grausam ihren Zweck erfüllten. Wie viele Menschenleben es
wohl im Lauf der Geschichte gekostet haben mochte, bis dieses Wissen über
helfende oder tödliche Dosis, über Anwendungsbereiche und Wirkungen verlässlich
geworden war? Beinahe hätte die katholische Kirche dieses ganze Wissen mit den
grausamen Umtrieben der Inquisition und der Hexenverbrennung zunichtegemacht. Unfassbar!
Dabei hatten die bigotten Kleriker an ihrem Papstsitz in Avignon Hurenhäuser
unterhalten und vermutlich das Wissen von Schamaninnen und Heilerinnen genutzt,
um Aphrodisiaka und potenzsteigernde Mittel aus Pflanzen zu erhalten. Zur
gleichen Zeit ließen diese Männer den Dominikanermönch Bernard Gui den
Hexenwahn und die Massentötungen der Inquisition zu einem aberwitzigen Ausmaß
führen und diese weisen Frauen auf unzähligen Scheiterhaufen in der Region
verbrennen.
Ganz zerstören konnten aber auch der Klerus und die
Inquisition das Wissen über die Wirkung von Pflanzen nicht. Und nun wurden
ausgerechnet in einem ehemaligen Klostergarten neben anderen traditionellen
heimischen Pflanzen die Arten wieder zusammengeführt, die immer schon Grundlage
der Heilkunde gewesen waren.
Aus wie vielen Quellen und Jahrhunderten ihr eigenes
Pflanzenwissen stammte, war unklar. Die Alten hatten in den entlegenen Dörfern
und Weilern ihre Erkenntnisse stets mündlich weitergegeben und durch Heirat und
Wanderschaft in der Provence verbreitet. Vermutlich war ihre Großmutter eine
der wenigen Frauen gewesen, die diese mündlichen Überlieferungen systematisch
gesammelt und niedergeschrieben hat. Sie hatte auch einfache Zeichnungen
angefertigt und nach und nach durch einzelne Exemplare getrockneter Pflanzen
die Sammlung erweitert, die später von ihrer Mutter und dann von ihr
fortgesetzt wurde. Diese nahezu umfassende Beschreibung heimischer Heilpflanzen
war ihr einzig bedeutsamer Besitz, wenn sie den heruntergekommen Hof außer Acht
ließ, für den sich nicht einmal die Makler interessierten, die sich auf
außergewöhnlich ruhig gelegene Immobilien spezialisiert hatten.
Dieser Wissensschatz könnte der Grundstock sein, um die
Gärten des ethnobotanischen Museums zu einem Zentrum für Pflanzenheilkunde
auszubauen. Tatsächlich hatte Ed in den vergangenen Monaten konkret diese Idee
verfolgt. Sie hatten sich Gebäude angesehen, die für Forschungseinrichtungen
geeignet gewesen wären, in denen die überlieferten Kenntnisse wissenschaftlich
ergründet und dann einer allgemeinen, freien Nutzung zugeführt worden
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