Grün war die Hoffnung
Bäumen spricht, mustert mich mit der Art Blick, wie ihn eine Buschkatze aufsetzt, wenn sie im hohen Gras eine Bewegung bemerkt. Sie dürfte etwa so alt wie Sierra sein, vermute ich – das heißt, so alt, wie Sierra wäre, würde sie noch unter jenen weilen, die als die Lebenden durchgehen. Neunundvierzig, fünfzig vielleicht. Aber ich kann Sierra nicht einmal annähernd in ihr erkennen, das möchte ich auch gar nicht, denn das wäre ja wohl der absolute Gipfel an Sinnlosigkeit und unbewältigtem Kummer... Meine Tochter? Heute? Sie wäre wunderschön, jemand, nach dem man sich umdreht, ganz was anderes als diese eingeschrumpelte kleine Puppenfrau mit Pferdegebiß und vergammelten Doc Martens an den Füßen und in einem Kleid, in das nicht mal eine Sechstkläßlerin passen würde.
»Schön, dich wiederzusehen«, sagt April Wind, dabei muß ihre Stimme einen Zahn zulegen, um bei dem Heulen draußen überhaupt vernehmbar zu sein (Unwetter Nummer drei der letzten Serie ist etwa vor einer Stunde losgebrochen). »Und danke, daß du mir dieses Interview zugesagt hast. Dafür bin ich echt dankbar.«
Aufgepaßt, es geht los. Die heilige Sierra . »Ich hab dir nichts zugesagt.«
Das Gesicht, das April Wind jetzt zieht – man könnte meinen, ich hätte sie in den Magen geboxt. Ich setze meine beste Version eines grimmigen Starrens für sie auf, zusammengepreßte Kiefer, hartgekochter Blick, aber in Wirklichkeit sehe ich über ihre Schulter auf die Schnecken, die ihre Schleimspuren die Fensterscheibe rauf und runter ziehen, gut darauf vorbereitet, die Erde zu übernehmen, die wir ihnen zugerichtet haben. Klar kenne ich sie noch. Die Tantra-Tussi. Endlose Nächte in einem zugigen Zelt, diese erbarmungslose Trällerstimme, ihre Totems, die sie in einem Beutel um den Hals trug – sie konnte sich nicht mal zum Essen hinsetzen ohne ein bescheuertes Gebet an die Erdgöttin. Ich kann total deine Aura sehen, ey, die ist blau mit purpurroten Rändern, und ich spüre genau, daß ich mich irgendwie voll zu dir hingezogen fühle, weil nämlich unsere Planeten im selben Haus stehen .
»Aber ich dachte, irgendwie...«
»Hast du immer noch deine Totems um? Was war deins noch schnell – die Kröte, oder? Warst du nicht eine Kröte?« Pause, ein Atemzug, das Geräusch der Eimer, die das ewige Tröpfeln auffangen. »Aber was tust du, wenn dein Totemtier nicht nur tot, sondern gleich total ausgestorben ist?«
Andrea springt in die Bresche: »April? Eine Tasse Tee für dich?«
Die Kinderfinger tasten nach etwas unter dem Kragen des Kleides, nach dem Musselinbeutelchen dort – flinke, nervöse Finger. Dann streicht sie den feuchten Baumwollrock auf ihren Knien glatt, wirft einen zaghaften Blick auf Andrea, dann auf mich. Mama hat mich gewarnt, daß es Tage wie diesen gibt . »Nein, danke. Echt.«
»Bist du sicher?«
»Ja, echt.«
Aber Andrea, die es vor zwei Tagen noch gar nicht gab und die inzwischen mich, das Haus und alles darin besitzt, hat heute hier einen Teeladen. »Er wird dich wärmen«, sagt sie. »Nicht daß es draußen kalt ist, nicht so wie früher jedenfalls – weißt du noch, der Stanislaus River, wie es damals geregnet hat? Und wie wir uns im Wald die Ärsche abgefroren haben – wie lange? Zwei Tage oder so? Aber wenn man ständig durchnäßt ist...«
»Was hast du denn da?«
»Lapsang Souchong.« Ein Blick auf mich. »Hab ich mitgebracht.«
Seltsamerweise finden die Frauen das witzig, als wäre ich ein Barbar, dem man keinen Teebeutel in der Küche zutrauen würde, und so verflüchtigt sich die ganze Spannung, die ich diesem Augenblick einimpfen wollte. Es ist ein Lachen der Erleichterung, der Kameraderie und Nostalgie, doch es hat auch etwas Verschwörerisches. Ich erkenne es – immerhin bin ich die Zielscheibe mit dem schwarzen Zentrum darin, das wollen wir mal nicht vergessen –, aber Andrea ist wieder da, sage ich mir, Andrea , da sollte ich besser mitschwimmen, wo immer es mich hintreibt. Also lache ich mit. Und es ist ein ehrliches Lachen, wirklich, das ungebremste Wiehern, das mir in den Proletenkneipen immer Ärger eingebracht hat, weil ich selbst davon mitgerissen werde. Ich war auch dabei im Headwaters Forest und am Mono Lake und einem Dutzend anderer Orte, genau wie sie. Ich kann lachen. Ich kann immer noch lachen. Wieso auch nicht? Radfahren verlernt man ja auch nicht, oder? Ha-ha, ha-ha.
»Scheiß auf den Tee«, höre ich mich sagen, denn in meiner armseligen, engen Zweizimmerbude mit den
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