Grün war die Hoffnung
Schlick, fummelte am Schalter einer unkooperativen Taschenlampe herum, inhalierte Regen und hustete ihn wieder aus, dabei dachte ich an John Muir, den heiligen Narren, der wohl am ehesten die Ursache für diese Unternehmung war. Ein Fuß folgte dem anderen, ich kletterte, dabei war ich nicht einmal sicher, ob ich die richtige Abzweigung, den richtigen Hügel erwischt hatte – ein Weg? Was für ein Weg? –, und ich dachte an Muir, wie er einmal ein nächtliches Unwetter in den Sierras durchgestanden hatte, sich in den höchsten Ästen einer geknechteten Kiefer hatte hin und her schleudern lassen, nur um zu sehen, wie es sich anfühlte. Er versuchte damals nicht, irgendwen oder irgendwas zu retten – er wollte nur den Moment erfahren und erleben, was noch keiner je erlebt hatte, seine Hosiannas an den Windgott und den Regen und das irrwitzige Wirbeln der rotierenden Erde hinausschreien. Er verspürte Freude, fühlte sich verbunden, er hatte Visionen und einen Sinn fürs Mystische. Was er nicht hatte: Black-Cat-Starkbier.
Ich spuckte aus, um die Kehle freizubekommen, zog die Schultern hoch und kippte mir die letzte Dose rein. Inzwischen war ich auf halber Höhe des Hügels und sicher, daß jeden Augenblick ein abgebrochener Ast aus dem Himmel niederkrachen und mich wie eine Kröte auf dem Boden festnageln würde, und als ich den Kopf zum Trinken in den Nacken warf, trommelte mir der Regen mit stetem, unablässigem Druck gegen die zugepreßten Lider. Drei lange Schlucke, und mein letzter Trost war geleert. Ich zerdrückte die Dose, stopfte sie in die Tasche meiner Regenjacke und ging weiter, ertastete den Weg, denn der matte Strahl der Taschenlampe war in der weiten schwarzen Unendlichkeit dieser Nacht nahezu nutzlos. Ich muß stundenlang herumgeirrt sein, las die Rinde der Baumstämme wie Blindenschrift, und das Traurigste ist, daß ich Sierras Baum niemals fand. Jedenfalls nicht daß ich wüßte. Dreimal stand ich in jener Nacht am Fuß eines Redwoods, der ihrer hätte sein können, die orangerötliche krümelige Rinde im Schein meiner Lampe, eine Brandnarbe in der Borke, die mir irgendwie bekannt vorkam, und allein die Basis dieses Trumms war im Durchmesser so groß wie das städtische Kinderbecken von Peterskill, in dem Sierra mit vierjährigen Gleichaltrigen herumgetollt war, während ich zwischen einer Schar wachsamer Mütter auf der Bank saß und mit einem Auge die Zeitung zu lesen versuchte. Das war ihr Baum, sagte ich mir. Er mußte es sein.
»Sierra!« brüllte ich, und der Regen warf mir das Wort zurück. »Sierra! Bist du da oben?«
Ich erinnere mich gar nicht, wie Weihnachten die letzten Jahre war. Einmal – es könnte letztes Jahr oder vor fünf Jahren gewesen sein, keine Ahnung – sind Chuy und ich zu Swensons Kneipe gefahren und haben die Welsplatte mit Soße und Füllung bestellt, ein andermal saßen wir in meinem Wohnzimmer und sahen zu, wie der Regen in die Eimer plitschte, während wir eine Ladung der letzten Thunfischdosen auf dieser Welt vertilgen. Wir übersahen das Verfallsdatum und aßen das feste weiße Fleisch mit Kapern und Fladenbrot und einer Schüssel frischem scharfem Chilidressing, das Chuy schnell zusammenrührte, und ich weiß noch, daß wir es mit Sake hinunterspülten, den wir in der Pfanne auf dem Herd angewärmt hatten. Und was lief im Radio? Ranchera -Musik und eine Trip-hop-Version von Stille Nacht . Dieses Jahr ist es anders. Dieses Jahr sind Andrea und April Wind da, und es gibt weihnachtlichen Frohsinn chez Pulchris.
Am Weihnachtstag liege ich wach und warte auf das Morgengrauen, wie üblich, Andrea schnarcht leise neben mir, der Gedanke, eine Nacht lang richtig zu schlafen, ist mir inzwischen ebenso fremd wie die Idee, zu joggen oder arglos in einen Apfel zu beißen, oder mich zu bücken, um mir die Schuhe zu binden, ohne daß mir eine ganze Streichergruppe von Schmerzen ein wahnwitziges Pizzikato die Wirbelsäule rauf und runter spielt. In meinem Alter naht der Schlaf wie ein Schlag auf den Hinterkopf, zu jeder Tages- und Nachtzeit, und man hat besser ein Sofa oder einen Sessel in der Nähe, wenn man ausgezählt wird (und fragt gar nicht erst nach den Altalten – das sind die reinsten Zombies, die auf ihren Vogelbeinen herumtorkeln, mit zwanzig oder dreißig Jahren Schlafentzug, der ihnen aus den Augenhöhlen blutet). Jedenfalls bemerke ich als erstes, daß der Regen aufgehört hat. Kein Prasseln, kein Rauschen, kein statisches Rauschen wie ein Flusensieb im Kopf,
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