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Grün war die Hoffnung

Grün war die Hoffnung

Titel: Grün war die Hoffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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nichts als eine zutiefst weihnachtliche Morgenstille, keine Seele regt sich, nicht mal ein Patagonischer Fuchs.
    Raus aus dem Bett und hinein in die Klammheit, ein Paar babyblauer Boxershorts rutschen meine unbehaarten Altmännerbeine hinauf und umfangen das schrumplige Spektakel meiner Altmännergeschlechtsteile. Dann die Jeans, das karierte Hemd und die verwaschene Jeansjacke, totaler Grunge-Look, keine Frage. Ich denke an ein Geschenk für Andrea – und ich weiß, daß sie eins erwartet, obwohl sie das während der letzten Woche mit jedem zweiten Atemzug pro forma abgestritten hat (»O nein, nein, Ty, mach dir bloß keine Mühe, wirklich«) –, frage mich, welches Totemobjekt ich aus dem triefenden Haufen meiner Habe wählen oder ob ich irgendwas von Mac erbetteln oder ausleihen soll, das ausdrücken könnte, was ich für sie empfinde. Denn was ich empfinde, ist Dankbarkeit –was ich empfinde, ist eine so tiefe Zuneigung für diese breitschultrige, weggetretene alte Lady in dem Bett zu meinen Füßen, daß es Liebe gefährlich nahe kommt und mehr als Liebe: Vergebung und sogar – darf ich es sagen? – Glückseligkeit. Ich bin wieder verliebt. Ja, das bin ich. Ich stehe da in der Dunkelheit, die Stille ist so tief, daß sie unbezwingbar in meinen Adern pulsiert, die Kraft des unleugbaren Lebens, voll gelebt bis ins letzte Mark des letzten Knochens. Da bin ich mir sicher. Andererseits könnten es auch meine Verdauungsprobleme sein.
    Zeitung gibt es natürlich keine bei dieser Überschwemmung, und da auch Zeitschriften aus Materialmangel – an Papier, meine ich – selten sind, ziehe ich mich mit einem schimmelfleckigen Exemplar von John Muirs The Mountains of California aufs Klo zurück. Das ist übrigens ein recht weitläufiger Raum, so groß wie eine normale Apartmentwohnung, samt Sechs-Personen-Whirlpool und einer gefliesten Duschkabine mit Doppelbrause, versenkter Beleuchtung und einer eingebauten Komfortbank, und alles riecht nach Andrea, nach ihrem Parfum, ihren Pudern und ihrer Hautverjüngungscreme. Die Wände sind so gestrichen, daß sie an die Alu-Garagentüren von früher erinnern, zu Ehren der Garagenbands dieser Welt, die Details stimmen bis hin zu den dreidimensionalen Griffen und glitzernden Rostflecken (das Bild von Eddie Vedder von Pearl Jam, Riesenaugen und geblecktes Gebiß, habe ich seit langem zur Wand gedreht, damit ich mein Geschäft in Ruhe verrichten kann). Auf jeden Fall beuge ich mich kurz zum Trinken an den Wasserhahn, nur um mir den Schlafgeschmack aus dem Mund zu spülen, dann lasse ich mich nieder zu einer langen Vorfestmahlsauseinandersetzung mit meinem komatösen Verdauungsapparat. Entspannt, oder bemüht, es zu sein, blättere ich um und lese von phantastischen Wäldern. Diese Baumart steht mehr oder weniger für sich, in Hainen oder kleinen, unregelmäßigen Grüppchen, so daß man dazwischen fast überall einen Pfad findet, entlang besonnter Kolonnaden oder über Lichtungen von sanftem, parkähnlichem Charakter, mit braunen Nadeln und Kletten bestreut. Mal durchquert man einen wilden Garten, dann einen von Farnen und Weiden gesäumten Bach...
    Ich weiß nicht, wie lange ich mich in diesen Wäldern der Erinnerung verliere – eine Stunde, wenn nicht länger –, von den unbezwingbaren Bäumen geht es weiter zu den Abenteuern von Wasserschmätzer und Biberhörnchen, während sich bei mir nicht einmal die Andeutung einer Darmtätigkeit zeigt, da klopft Andrea an die Tür. »Ty?« ruft sie. »Bist du das da drin? Ich muß mal pinkeln.«
    »Sekunde noch!« Mit bohrendem Schmerz in beiden Hüften und meinem linken Knie fahre ich vom Klo hoch, ziehe mir die Hosen hoch, spüle und schließe das Buch.
    »Ty?«
    »Ja?«
    »Frohe Weihnachten.«
    Diese Floskel überrascht mich, das Unerwartete daran ebenso wie das Unerwartete an unserer Situation. Im Gefängnis wünscht man einander nicht frohe Weihnachten, und, wie gesagt, in den letzten Jahren waren Chuy und ich weitgehend auf uns allein gestellt gewesen. Seit langem hatte mir niemand mehr irgend etwas gewünscht, nicht mal Schlechtes, ein verzweifeltes Leben oder einen qualvollen Tod. Ich bin gerührt. Fast zu Tränen gerührt, so wie von dem Silberfolienengel in der Halle. Ich bin schon fast an der Tür, da fällt mir ein, mir am nächsten der vier Becken die Hände zu waschen, deshalb muß ich die Stimme heben, um durch die solide Holztür zu hören zu sein. »Dir auch«, rufe ich, und die Worte werfen Echos in der

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