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Grün war die Hoffnung

Grün war die Hoffnung

Titel: Grün war die Hoffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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abgebrochenen Äste, Manzanitasträucher und Felsblöcke bilden Muster wie auf einem urzeitlichen Teppich. Sierra verachtet Seile, Sitzgurte und alle sonstigen Sicherungsmittel. Sie ist barfuß, um besseren Halt auf der Rinde zu haben, und sie verläßt sich auf Artemis – ihren Baum, den Geist ihres Baumes –, die sie halten wird. »Wer –?« sagt sie, bekommt aber den Rest nicht heraus.
    Er hat jetzt ein Knie auf der Plattform, und sein Blick läßt sie keine Sekunde lang los. Hemmungen kennt er nicht, hat keine Scheu davor, einfach in den Ruheraum einer schlafenden Frau zu schleichen oder in die Intimsphäre eines anderen Menschen einzudringen. Die Sache ist, er sieht nicht übel aus: die Haare sauber gekämmt, der Bart adrett gestutzt, sein Blick wird freundlich und warm. »Guten Morgen, Sierra«, sagt er, und auch die Stimme klingt nett, und sie fragt sich, ob das ein Neuer aus der E.F.!-Hilfstruppe ist oder vielleicht ein wahrhaft tollkühner Reporter, aber da durchfährt sie auch schon der Ärger. Die wissen doch genau, daß sie so früh keine Interviews gibt – und zumindest sollten sie vorher anrufen. Ihr Haar sieht grauenhaft aus. Sie streift eine Strickmütze darüber, setzt sich auf und zieht die Beine aus dem Schlafsack. Und Climber Deke? Der kauert am anderen Ende ihrer Plattform auf seinen Spikesschuhen – zwei mal zweieinhalb Meter, mehr hat sie nicht hier oben, ein doppeltes Sperrholzbrett, und er halbiert glatt ihren Platz, sie spürt sein Gewicht und wie die Plattform sich ihm durch Nachgeben anpaßt. »Weißt du, wer ich bin?«
    Sie sitzt unter dem orangefarbenen Baldachin, in Sweatshirt und Parka, darunter Thermounterwäsche, und ihre bloßen Füße werden rasch kalt. Sollte das eine Art Quiz werden? Sie blickt ihm in die Augen und sieht die plötzliche Kälte darin, obwohl er immer noch lächelt. »Nein«, sagt sie, und ihr Atem bleibt in der Luft hängen, als wäre diese eine Silbe stofflicher Natur. Alles ist naß. Und glitschig. Es hat keine fünf Grad.
    Er trägt ein Flanellhemd, das vom Schweiß oder vom Regen oder von beidem naß ist, darunter ein Thermo-T-Shirt, das die Farbe eingetrockneten Blutes hat und im offenen Kragen sichtbar ist, dazu eine ausgefuchste High-Tech-Uhr und Hosenträger – rote Hosenträger. »Ich heiße Deke«, sagt er, »aber alle nennen mich Climber Deke.« Hier wurde das Lächeln zum Grinsen, als wäre das einer der besten Witze der Welt. Sie kennt ihn. Jetzt erkennt sie ihn. Die Hosenträger hätten sie auch so darauf gebracht. »Ich bin hier, um dich runterzuholen. Und das geht auf die leichte Art – ganz zivilisiert –, oder wir erledigen es auf die harte Tour, falls du das so willst. Aber so oder so kommst du von diesem Baum runter, meine Kleine, und zwar jetzt.« Er legt eine Pause ein und verlagert das Gewicht auf die Knie, wobei die Plattform leise bebt. »Und warte nicht darauf, daß deine Freunde dir helfen, wir haben nämlich gerade vorhin drei von ihnen, die auf dem Weg hierher waren, festgenommen und eingebuchtet – die Anzeige lautet auf unbefugtes Betreten –, und außerdem mußte ich leider deine untere Plattform demontieren, samt deinem Essen und dem Campingkocher. Tja, Herzchen, du würdest demnach hier oben sowieso nur verhungern, also warum schmeißt du nicht einfach alles runter, was du gern mitnehmen möchtest, und dann machen wir uns auf den Weg?«
    »Okay«, sagt sie – das sagt meine Tochter: »Okay« –, und zwar so leise, daß er sie kaum hört. Aber er nickt – sie hat ja wirklich keine Wahl, sie bricht hier oben das Gesetz, und wenn nötig, könnte er sie sich einfach auf den Rücken schnallen und ihr Handschellen anlegen – und ruht sich in der Hocke aus, um ihr Zeit zu geben, das Zelt abzubauen, ihren Schlafsack einzurollen und dieses verdammte New-Age-Hippie-Schmetterlingsbild verschwinden zu lassen, das sie auf einen Leinwandfetzen gepinselt hat, als wäre das hier eine billige Wohnung in Haight-Ashbury oder so. Sierra kriecht aus dem Zelt – zwei mal zweieinhalb Meter – und erhebt sich, so daß sie über ihm steht, wenige Zentimeter von seinen gekreuzten Knöcheln entfernt, und tut so, als wollte sie an diesem Ende der Zeltbahn die Schnur lösen.
    Sie tut so. Das lenkt ihn einen Moment lang ab – er hat hier das Kommando, und sie ist nur eine dünne junge Frau mit Mondgesicht, einem Zopf wie ein Tau, dreckigen Füßen und stinkenden Kleidern –, und mehr als diesen Moment braucht sie nicht. In einer einzigen

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