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Grün war die Hoffnung

Grün war die Hoffnung

Titel: Grün war die Hoffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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versuchte sie anfangs zu ignorieren, doch nachdem El Niño sie nicht heruntergeholt hatte, wurde sie langsam zur peinlichen Angelegenheit – schlimmer noch: zu einer Belastung. Denn je länger sie ausharrte, desto mehr Menschen wurden auf sie aufmerksam. Niemand hatte jemals länger als zwanzig Tage einen Baum besetzt, bevor Sierra auf Artemis geklettert war, und als sie die Einmonatsgrenze überschritt, begann sich die Presse um ihr schwindendes Wäldchen im Headwaters Forest zu scharen. Teo, der nie eine gute Gelegenheit ausließ, führte die Journalisten selbst bis zum Baum und half sogar ein paar von den Hartgesotteneren auf die untere Plattform hinauf (sie hatte mittlerweile zwei, eine in rund dreißig Meter Höhe, die sie für Interviews und zumKochen benutzte, die andere war fünfundfünfzig Meter hoch und ihr privater Raum, zum Meditieren und zum Schlafen). Andrea brachte ihr ein Mobiltelefon, und am Ende des zweiten Monats plauderte sie täglich zwei, drei Stunden – manchmal mit Vater oder Stiefmutter, durchaus, hauptsächlich aber gab sie Interviews, klärte die Öffentlichkeit auf, warf den Fehdehandschuh auf den Waldboden.
    Die anderen zwei Baumbesetzer – ein mageres Mädchen mit Bürstenschnitt und ein bärtiger Neunzehnjähriger mit traurigem Blick, der nur als Leaf bekannt war; beide in nahen Waldstücken positioniert – hatten nach der ersten Woche mit unbarmherzigem Regen und Böen der Windstärke neun aufgegeben, wodurch man sich bei Coast Lumber garantiert bestätigt fühlte. Schieres Nichtstun war ihre Politik. Gewalt vermeiden. Schlechte Presse unterdrücken, bevor sie ihr häßliches Haupt erheben und einen in den Fuß beißen konnte. Doch mit meiner Tochter hatten sie nicht gerechnet. Sie war keine von diesen Neo-Hippie-Studentinnen mit Bodypiercings, die in den Sommerferien ein paar Parolen skandierte und sich an Firmenlimousinen kettete – sie war ein leuchtendes Fanal hoch oben in ihrem Baum, unbeirrbar und unerschütterlich, eine Jeanne d’Arc, die ihre Soldaten in die Schlacht führte, und sie hatte nichts zu verlieren als Haut und Knochen. Sie mußten sie beseitigen. Sie hatten keine andere Wahl.
    Nehmen wir einen Morgen, irgendwann im zweiten Monat. Sieben Uhr früh. Leiser Regen fällt im still dahintreibenden Rhythmus der Unendlichkeit, die dichten Baumreihen, der Himmel so nah, daß er von innen zu leuchten scheint. Sierra schläft noch. Eingepackt in Thermowäsche, vergraben im Schlafsack, auf einer Isomatte ausgestreckt unter dem Dach des grellorangen Zelts auf der beengten Holzplattform fünfundfünfzig Meter über der Erde. Der Wald atmet ein und aus. Auf einen Ast zwanzig Meter unter ihr läßt sich ein Marmoralk nieder. Sie träumt vom Fliegen. Nicht vom Fallen – diesem Traum weicht sie dezidiert aus auf ihrem Lager so hoch über der Erde, sogar im Unterbewußtsein –, sondern davon, daß ihr Flügel wachsen und sie von der Plattform abhebt, um dicht über das Sägewerk zu gleiten und an Höhe zu gewinnen, bis der Wald immer kleiner wird und dann auch die Hügel und selbst der Ozean, höher und höher, bis sie den Satelliten und den glitzernden Metallbändern ihrer Umlaufbahnen ausweichen muß und einen ungehinderten Blick auf die Erde hat. Der blaue Planet. So treibt er durch ihren nur halbwachen Verstand, gleich hinter den Augenlidern, gehalten von nichts weiter als dem kalten schwarzen Nichts, als auf einmal die Plattform erbebt.
    Sie wacht auf. Späht durch die Öffnung am Südende ihres Zeltes. Und sieht eine Hand, eine Menschenhand, die sich in der Ecke der Plattform anspannt wie eine vogeljagende Raubspinne im Amazonasbecken. Sie träumt. Sicher träumt sie noch, schlafend und wachend zugleich. Leises Ächzen ertönt, dann taucht eine weitere Hand auf – und im nächsten Moment schiebt sich ein Kopf ins Bild, überheblicher Blick, ein schmaler Strich von einem Mund, das Gesicht gerahmt von einem Bart, der die Farbe von Kaffeesatz hat. Es ist ein Gesicht voller Andeutungen, und es gehört Climber Deke, einem achtundzwanzigjährigen Angestellten von Coast Lumber, der darauf spezialisiert ist, Bäume zu erklimmen und unbefugte Gäste zurück nach unten zu eskortieren, wo man sie ordnungsgemäß verhaften und anzeigen kann.
    Fünfundfünfzig Meter über dem Boden. Sieht man aus dieser Höhe hinunter, scheinen es eher hundert Meter zu sein. Menschen sind so groß wie Püppchen, die Eich- und Erdhörnchen, die über den Waldboden flitzen, nahezu unsichtbar, die

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