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Grün war die Hoffnung

Grün war die Hoffnung

Titel: Grün war die Hoffnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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In den ausgedörrten Winkeln meiner Altmänneraugen sammelt sich Feuchtigkeit, und ich muß sie mit zwei zitternden Fingern wegwischen.
    »Darum haben wir uns nämlich bemüht, Mac und ich«, sage ich, und ich flehe ihn jetzt an, ich kann mich nicht beherrschen. »Wir wollten die Tiere retten. Für die Erde ist es zu spät. Und für uns auch. Aber die Tiere – wenn wir sie nur vor dem Aussterben bewahren können, bis wir weg sind... Sie werden sich immer anpassen, keine Frage, und an unsere Stelle würde etwas Neues treten. Das ist unsere Hoffnung. Die einzige Hoffnung.«
    Ungefähr zu diesem Zeitpunkt bin ich auf den Beinen und versuche meine Gedanken zu ordnen, um ihm vom Artensterben zu erzählen und daß wir uns am Ende des sechsten großen Artensterbens befinden, das unseren Planeten heimsucht, verursacht durch uns, den Menschen, den Fortschritt, daß es aber zu einer neuen Artenbildung kommen wird, sobald der Mensch weg ist, einer Explosion der Formen, die überall entspringen werden, um die vielen verlassenen Nischen zu besetzen, zu einer Transformation, wie es sie seit dem Kambrium vor fünfhundertsiebzig Millionen Jahren nicht mehr gegeben hat, aber er hört mir nicht zu. Es ist 9.15 Uhr, er ist den weiten Weg von New York geflogen, und jetzt verkneift er sich ein Gähnen auf Macs Couch im Motown Room, unter dem wabernden Bild der Four Tops. Er will nichts über die Umwelt hören – die Umwelt ist jetzt sowieso überdacht, bis hin zu den Kuppelfeldern, auf denen die Rucola für seinen Salat wächst, und den vier Wänden, die er sein Zuhause nennt. Die Umwelt ist ein Langeweiler. Niemand will darüber lesen – niemand will davon wissen –, und trotz aller Aktivitäten von April Wind (und Andrea) will auch keiner etwas von Sierra wissen. Oder von mir. Nein, was die Leute wissen wollen – das geht mir plötzlich mit einer solchen Klarheit auf, daß ich es nur dem Neurobooster zuschreiben kann, den ich heute früh eingeworfen habe –, sie wollen hören, ob das Wetter je wieder normal werden wird und wie es Maclovio Pulchris mit dem Sex gehalten hat.
    Und da ist auch schon, wie aufs Stichwort, die kleine, süße, nicht mehr ganz so junge April Wind, sie betritt den Raum mit Trippelschrittchen wie ein Götzenwesen der Ituri-Pygmäen, um alles en détail zu erzählen.
    Mag ja sein, daß meine Tochter und die von ihr gebrachten Opfer und überhaupt die gesamte Welt jenseits der Computerschirme Ronnie Bott und Bertelsmann West piepegal sind, aber mir nicht, immer noch nicht, ich kann nicht anders. Nennt es den Altersstarrsinn. Nennt es Nostalgie. Aber nachdem ich fünf Monate lang mit April Wind herumgehangen habe und mir ihre bohrenden Fragen langsam ebenso verhaßt waren wie die abstruse Idee einer Sierra-Tierwater-Biographie, will ich diese Idee jetzt, da sie geplatzt ist, noch verzweifelter verwirklichen, als ich sie ihr anfangs ausreden wollte. Ergibt das einen Sinn? Na schön, dann nennt es Sentimentalität. Oder nennt es Hoffnung, Wut, Verzweiflung, nennt es, wie ihr wollt, aber ich will Zeugnis ablegen, und das werde ich auch, und wenn ich mich in April Winds Zimmer schleichen und ihr das Manuskript klauen muß, um das Buch selbst zu Ende zu bringen.
    Sierra hat für ein Ideal alles aufgegeben, und wenn das nicht die Definition einer Heldin ist, dann weiß ich auch nicht. Sobald sie einmal auf diesem Baum saß, war es gelaufen: ihr Leben war vorbei. Sie hatte niemals Kinder, hatte nie ein Haus, ein Tier, nicht mal eine Wohnung, sie ist nie wieder einkaufen gegangen oder hat sich spontan irgendwas geleistet, hat nie mehr ferngesehen oder war im Kino, hatte weder Freundin noch Liebhaber. Von ihrem Vater war sie eintausendzehn horizontale Kilometer und fünfundfünfzig vertikale Meter getrennt, ebensogut hätte sie auch im Gefängnis sitzen können. Drei Jahre lang, den bitterkalten Winter und den Hochofen des Sommers hindurch, badete sie kein einziges Mal. Ihre Kleider stanken, ihre Haut brannte, sechs Tage die Woche aß sie Gemüsereis und sonntags Linsensuppe. Um sich zu entleeren, kauerte sie über einem Eimer. Finger und Zehen fühlten sich an, als würden sie bald abfallen, ihre Rückenschmerzen waren schlimmer als die ihres Vaters, und sie hatte ein Loch in einem der oberen Backenzähne, das sich mitten durch den Kopf zu bohren drohte. Sie war nie in Paris. Ging nie auf die Uni. Streckte sich nie mehr vor dem brennenden Kamin auf dem Sofa aus und lauschte dem Regen auf dem Dach.
    Coast Lumber

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